Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
Vom Netzwerk:
einem, dachte Gretchen Morgenthau. In einer Ecke im hinteren Teil der Terrasse lagen zwei Katzen, die sie gelangweilt musterten.
    »Darf ich vorstellen«, sagte Tuva, »meine beiden Skogkatts, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili«
    »Ein Anarchist und ein Diktator? Die vertragen sich?«
    »Seit Stalin keine Eier mehr hat, schon.«
    »Ah.«
    Gretchen Morgenthau piekte mit der Gabel in den Apfelkuchen, der leicht dampfte, der noch einen letzten Rest Wärme ausatmete. Der Mürbeteig war mit einer dünnen Glasur versiegelt, was ungewöhnlich war. Es knackte zart beim ersten Biss. Eine Spur Marzipan, mehr eine Andeutung als eine Gewissheit, setzte sich am Gaumen fest. Die Apfelstücke waren noch bissfest, doch sobald die Zähne die erste Schicht durchdrangen, zergingen sie auf der Zunge. Kleine Mandelsplitter mischten sich ein und der Speichel mengte alle Zutaten zu einem Mus von irritierender Vielfalt. Es schmeckte nach Bratapfel, Zimt und Vanille, nach Koriander und Kardamom und nach tausend weiteren Kleinigkeiten, die sie gar nicht kannte, die ihr noch nie in den Sinn gekommen waren. Es schmeckte nicht wie ein Apfelkuchen, es schmeckte wie der Apfelkuchen, so wie Gott ihn dereinst erschuf, bevor der Mensch ihn vernichtete. Mit seinen Rosinen.
    »Und, schmeckt’s?«
    »Eine Begabung, würde ich sagen. Unverkennbar. Eine Schande, dass ein solches Talent hier versauert.«
    »Warum denn versauert?«
    »Nun ja, mir kommt diese Insel so ein klein wenig, wie soll ich sagen, krank vor.«
    »Krank? Interessant«, sagte Tuva und lehnte ihren mächtigen Oberkörper tief in die Rückenlehne des knirschenden Holzstuhls.
    »Ja, die Menschen hier sind irgendwie, nun ja, merkwürdig.«
    »Ich dachte immer, es wäre andersherum.«
    »Andersherum?«, fragte Gretchen Morgenthau ernsthaft überrascht.
    »Ja. Andersherum. Ihr lasst die komischsten Menschen über euer Leben bestimmen. Ich habe mich immer gefragt, wie es so weit kommen konnte, dass bei euch jene, die nichts produzieren, so viel Macht haben. Ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, wie eure Verwalter, Beamten, Politiker und Manager den Handwerkern, Bauern und Arbeitern, den Wissenschaftlern, Künstlern und Denkern das Leben zur Hölle machen, mit ihren Rechenschiebern, mit ihrer Kleingeisterei, mit ihrer Nichtigkeit. Mich hat das immer sehr amüsiert, dass bei euch die größten Trottel die wichtigsten Entscheidungen treffen.«
    »Ah«, sagte Gretchen Morgenthau leicht angewidert. Das dicke Ding klang wie eine schlecht riechende Soziologin. Sie versteifte sich etwas. Natürlich wusste sie, dass Menschen, die es in wichtige Positionen schafften, in der Regel nur solche waren, die zufällig zur richtigen Zeit auf dem richtigen Platz saßen und bis zu ihrer Beförderung nicht unangenehm aufgefallen waren. Menschen, denen nicht daran gelegen war, etwas Großes zu vollbringen, sondern wichtig zu sein. Und entweder sie waren gut in Seilschaften oder gut mit dem Ellenbogen und am allerbesten gut in beidem. Und sie wusste auch, dass das Zeitalter dieser Menschen vorbeigehen musste, dass sie wieder in die zweite und dritte Reihe gehörten, wollten sie alle überleben. Aber das war Allgemeingut, sie musste sich nicht von einer übergewichtigen Trullala aus Wolkenkuckucksheim belehren lassen. Gleichzeitig wollte sie die Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, sie spekulierte auf ein zweites Stück von diesem unfassbaren Apfelkuchen und so hielt sie sich zurück.
    »Interessant, wie man das von hier aus beurteilen kann.«
    »Ich habe meinen Beruf in eurer Welt erlernt.«
    »Bäckerin?«
    »Bäckerin in Prag, Pâtissière in Paris. Fünf Jahre habe ich dort gelebt und gearbeitet.«
    »In Paris? Und dann wieder an diesen Ort zurück? Freiwillig?«
    »Ja, warum auch nicht?«
    »Es gibt hier keinen Prada-Store? Hallo?«
    »Ach ja«, winkte Tuva mit gestelzter Geste ab, »die oberen Zehntausend und das Äußere.«
    Das war’s.
    Gretchen Morgenthau hörte den Gongschlag zur ersten Runde. Bäckerin hin, Bäckerin her, da konnte der Apfelkuchen noch so göttlich sein, wer den Fehdehandschuh warf, der sollte auch Veilchen mögen. Und was sollte das überhaupt mit den oberen Zehntausend? Sie verkehrte in gebildeten Kreisen, nicht unter dummen Parvenüs. Für die Welt der Vorstände und Industriellen brauchte man einen Pelz, um nicht zu erfrieren, ein Pelz aber war selbst für Gretchen Morgenthau undenkbar, da hörte bei ihr die Tierliebe auf. Sie gehörte nie

Weitere Kostenlose Bücher