Gretchen

dazu, sie verachtete die oberen Zehntausend. Sie wurde dort auch nicht gerne gesehen und schon gar nicht mehr eingeladen, seit sie auf einem Bankett zugunsten hungernder Kinder in Schwarzafrika eine Kunstmäzenin und Milchprodukteerbin als in Lederhaut eingenähte Cracknutte mit dem Verstand eines Kleiderbügels bezeichnet hatte. Mit gebotenem Respekt selbstverständlich. Da hatte man ihr nachtragend zu verstehen gegeben, dass sie fürderhin als Persona non grata betrachtet werde. Dabei hatte die Cracknutte angefangen und sie mit Bedienung angesprochen. Interessierte aber keinen. Sie wusste, wie solche Menschen dachten, wie sie lebten, sie wusste um die großen Gemeinsamkeiten zwischen den oberen und unteren Zehntausend, um die brachiale Asozialität und die hemmungslose Besserwisserei, sie wollte nie mit ihnen in einen Topf geworfen werden, das war eine Beleidigung allerersten Grades, eigentlich Todesstrafe.
    Gretchen Morgenthau nahm noch einen Schluck von dem dunklen, nach Nelke und Haselnuss duftenden Kaffee und blickte durch den dampfenden Nebel freundlich lächelnd Tuva an, die ihrerseits freundlich zurücklächelte, die rosigen Wangen im Leuchtmodus, in den Augen die Güte einer ganzen Heilsarmee.
    »Ich verkehre nicht in den Kreisen der oberen Zehntausend«, sagte Gretchen Morgenthau mit sanfter Stimme, »aber ich verstehe, dass nicht jede dahergeplumpste Backmarie in der Lage ist, zu differenzieren. Ich mag schöne Kleidung. Sie ist ein Teil von mir, von meiner Persönlichkeit, meinem Wesen, meinem Ich. Und hätte ich nicht zufälligerweise genügend Geld, um sie mir leisten zu können, so müsste ich in Ketten stöbern oder selbst schneidern, aber gewiss wäre ich immer wunderschön angezogen, immer. Ich bin ein Mädchen. Ich wurde als Mädchen geboren und ich werde als Mädchen sterben. Ein Kleid, eine Bluse, ein Rock, das ist nicht nur ein Stück Stoff, um uns vor der Natur zu schützen, meine Liebe, es ist Ausdruck, es bringt hervor, es versteckt, nicht nur Physisches, nicht nur Unzulängliches, auch das Empfindsame, das Gute und das Böse. Vor einem Spiegel zu stehen und zu sehen, sich selbst zu sehen, zu richten, meckern und zetern, sich mal fremd, mal unsterblich, mal nackt und mal vertraut zu fühlen, in Illusionen verlieben und Existenzen zerstören, frieren und kämpfen, verlieren und aufzustehen, all das ist der Grund, warum wir uns umdrehen, uns ablenken und für einen Moment lang ernsthaft glauben, das Leben sei voller Aufregung. Wer lieber in einem gelb angemalten Kartoffelsack rumlaufen und mit einem Pfannkuchen verwechselt werden möchte, der soll das tun, aber er möge nicht richten, er möge in Walnussöl brutzeln. Mit Verlaub.«
    Tuva lächelte milde und schenkte Kaffee nach. »Ach Kleines, immer noch nicht gelernt zu entspannen, wo dieser Ort doch zu kaum weniger einlädt.«
    »Die debile Lieblichkeit hier hindert mich daran, ich glaube, sie ängstigt mich sogar ein wenig.«
    »Zu Recht. Wie hatten hier sogar schon einen Mord.«
    »Mord? Hier? Wohl eher einen Unfall.«
    »Nein, ein richtiger Mord, heimtückisch und geplant, na ja, wohl eher im Affekt, aber mit allem Drum und Dran, ganz großes Kino.«
    »Wann und warum?«
    »1951. Aus Eifersucht.«
    »Nicht wahr.«
    »Doch, doch, der Legende nach war es eine Ménageà-trois, die nach einem wilden Zechgelage völlig aus dem Ruder lief. Filippa, Eskil und Olav hießen die drei Unglücklichen. Dabei ging es über viele Jahre hinweg gut. Bis Olav eine Psychose entwickelte, von der die anderen nichts ahnten. Er glaubte, Liebe sei nicht durch drei teilbar. Mathematisch gesehen. Und dann erschien ihm Vektor, der Gott der Mathematik, und befahl ihm, das Problem auf traditionelle Art zu lösen. Eine Axt war zufällig auch zugegen. Und so wurde der dritte im Bunde, der gute Eskil, kurzerhand ins Paradies geschickt. Um Eskil identifizieren zu können, mussten die Körperteile gepuzzelt werden, was gar nicht so einfach war, da es sehr viele Kleinteile gab, unheimlich schwer zu legen. Noch ein Stück Kuchen?«
    Gretchen Morgenthau überlegte. Die Versuchung war nahezu unmenschlich. Aber Charles Manson wartete. Zwei Stunden konnte er alleine bleiben, dann musste sie zurück. Füttern. Er konnte einen Heidenlärm veranstalten, wenn die Zeiten nicht eingehalten wurden. Da verstand er keinen Spaß. Und die zwei Stunden waren beinahe um. »Ich könnte noch tagelang Geschichten von früher hören, und für den Apfelkuchen würde ich sterben, aber