Gretchen
Ziegenlippe und Hainbuchenröhrling. Und er sprach davon, dass sie nichts Rotes sammeln solle. Es klang alles total krank. Dabei hatte sie in ihrer unendlichen Weisheit an praktische Kleidung gedacht, mit der sich formidabel auf vermoosten Hängen kraxeln oder im struppigen Unterholz krauchein ließ. Sie trug ein kobaltblaues Leinenkleid von Acne, dazu einen jagdgrünen Poncho von Stefanel und graue Mid Heels von Tabitha Simmons. An ihrem linken Unterarm hing ein geflochtenes Körbchen von Ludger, dem örtlichen Korbmacher. Schiefgehen konnte rein gar nichts mehr. Sie blickte in eine kleine Schneise links vom Trampelpfad, die noch unberührt, ganz jungfräulich erschien. Ein leichter Nebel bedeckte den Boden, es roch nach Klosterfrau Melissengeist, nach betrunkener Natur. Sie fragte sich, ob wohl noch der Böse Wolf auftauchen würde und ob sie ihn mit einer Ziegenlippe oder einem Rothäubchen zu erschlagen habe. Krank, dachte sie. Krank. Das Bücken gefiel ihr auch nicht. Es war unglaublich, wie schmutzig Erde war. Und wie bösartig. Wer sie persönlich anfasste, mit den Händen, der war kontaminiert, verloren, für immer. Der fremde Organismus wurde einfach überrannt. Selektion, dachte sie. Um zu überleben, musste gesiebt werden. Sie sammelte nur sporadisch, nur dann, wenn ihr ein Pilz ganz besonders interessant erschien. Zehn Stück waren es, die Gnade in ihren Augen fanden, die zu köpfen sie für würdig erachtete. Die Farben variierten von Safrangelb über Schlohweiß und Moosgrün bis hin zu Hellviolett und Dunkelbraun. Manche Pilze rochen nach Anis, andere nach Dung. Um das Aussortieren musste sich der junge Waldschrat kümmern, sie hatte schon wieder vergessen, welche giftig waren und welche nicht, das war nur etwas für Freaks, das Kundige, für Naturfreaks, das sollte ihr Problem nicht sein.
Ihr Problem war, dass sie den Waldschrat nicht mehr sah. Sie war vom Weg abgekommen, ganz unbemerkt, sie wusste auch nicht, wo sie hätte sein können, es war alles so voller Wald. Sie überlegte, ob sie ihren persönlichen Assistenten rufen sollte. Doch noch bevor ihr ungemütlich wurde, nahm sie eine gänzlich neue Witterung auf, eine, der sie seit Zeiten an verfallen war, eine, die nach frisch gebackenem Apfelkuchen mit Schlagobers roch. Sie folgte dem Duft. Durch störrisches Geäst, auf nassem Gewiese, über ruppiges Gestein, nichts vermochte sie aufzuhalten, nicht einmal der hässliche Borkenkäfer, der sich ihr mutig in den Weg stellte und der mit seinem Leben dafür bezahlte. Sie fühlte sich wie hypnotisiert. Sie ging einfach immer weiter. Sie stockte erst, als sie am Rand des Waldes auf einer Lichtung ein kleines, weinberanktes Haus sah. Das Haus war zu dreiviertel vom Wald umschlossen, im Norden aber reichte der Blick bis hinunter in ein kleines Tal, das schmatzig grünte, in dem träge eine Herde Kühe graste. Vor dem Haus, auf einer Art Terrasse, werkelte ein mächtiges Wesen von ungewohnter Üppigkeit.
Als Gretchen Morgenthau näherkam, stockte sie. Erinnerung keimte, unheilvolle, sie kniff die Augen zusammen, die Umrisse wurden schärfer und dann erkannte sie das wuchtbrummende Etwas. Es war das dicke Monster, das ihr zur Begrüßung Oh Happy Day entgegengeschmettert hatte. Sie war unsicher, ob sie weitergehen konnte, ob sie noch nicht gesehen wurde, aber da winkte das Honigkuchenpferd sie schon herbei.
»Willkommen. Gretchen, richtig?«, fragte Tuva, als sie sich auf Augenhöhe genüberstanden, beide fast gleich groß.
»Frau Intendantin.«
»Wir duzen uns hier alle, Mädchen. Ich bin Tuva. Setz dich, es gibt frisch gebackenen Apfelkuchen.«
»Mit Rosinen?«
»Selbstverständlich ohne.«
Sie merkte am Tonfall, am Blick und an der Körpersprache, dass sie ein anderes Alphaweibchen vor sich hatte. Das Resolute war ihnen angeboren und es war in der Regel nicht gut, wenn zwei Alphaweibchen aufeinandertrafen. Denn meistens blieb dabei eines auf der Strecke. Blutend und in Stücke gerissen.
Gretchen Morgenthau schaute sich um, derweil Tuva den Kuchen anschnitt und dampfenden Kaffee in türkisfarbene Becher goss. Auf der Terrasse müllte die Gemütlichkeit. Alles war voller Schnickschnack, voller Topfpflanzen, Windräder, Kerzenleuchter und Tongefäße, die Tiere darstellten, überwiegend Schweine. In einem Kräutergarten pflanzten Minze, Zitronengras, Salbei, Thymian und allerhand merkwürdig riechendes Gestrüpp vor sich hin. Sie war wohl die Kräuterhexe vor Ort und das Lilalaunebärchen in
Weitere Kostenlose Bücher