Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
Vom Netzwerk:
Sie doch mal!«
    »Gut.«
    Arne blickte Gretchen Morgenthau starr in die Augen, er glaubte, dass noch etwas kommen würde, und er hatte Geduld, und so fror er sein Bürgermeisterlächeln ein. Er war gut darin. Stundenlang konnte er dieses Lächeln vor dem Spiegel proben, ohne dass ihm langweilig wurde. Es war sein größter Schatz, seine Spezialsupersonderwaffe, dieses joviale, mitfühlende, dezent melancholische Lächeln, das insbesondere bei Frauen immer sehr gut ankam. Und so wartete er und wartete, aber es kam nichts mehr, kein Wort, kein Satz, nicht einmal die geringste Regung, und so sagte er schließlich: »Schön. Sehr schön. Und sonst? Etwas Spannendes erlebt? Vielleicht einen kleinen Raubüberfall, ha, Witz gemacht.«
    »Nein. Alle lieb. Ganz, ganz lieb. Alle.«
    »Oh, Sie waren noch nicht in Little Aberdeen. Das ist auch gut so, glauben Sie mir. Da will niemand freiwillig hin.«
    »Little Aberdeen?«
    »Ja, im Osten, üble Gegend, rechtsfreier Raum, die McGreedys haben dort alles unter Kontrolle. Ein Familienclan der ersten Stunde, ruppige Gestalten, die sehr viel Spaß verstehen, wenn es nur der ihre ist. Ansonsten trinken, tanzen und prügeln sie hauptberuflich und nutzen ihre spärliche Freizeit zum Schlaf. Ich kann Sie nur ausdrücklich davor warnen, einen Fuß in diese Gegend zu setzen. Schotten sind Metzger, hinterhältige Bestien, kein Umgang für eine Frau Ihres Standes. Und ich befürchte, dass der lange Arm des Gesetztes nicht lang genug ist, und dass ich meine Hand für Ihre Sicherheit nicht ins Feuer legen kann und, ich bin so frei, den Fuß auch nicht ins Wasser, ha.«
    Gretchen Morgenthau war überrascht, ein einziges Mal in ihrem Leben war sie in Schottland zu Gast, in Edinburgh, aber die Schotten dort hatten einen recht zivilisierten Eindruck hinterlassen, selbst der Portier, den alle nur Deadhead nannten, war nicht von zweifelhafter Natur, er war seinen Namen ganz und gar wert. Und überhaupt, waren die Schotten doch von geselliger Offenheit und besaßen etwas, das Touristen immer so gerne mochten: eine ehrliche Haut, selbst wenn sie logen.
    »Und«, fügte Arne noch hinzu, »sie brauen ihren Alkohol selbst, extrem hochprozentig, die trinkt keiner unter den Tisch.«
    »Assistent!«, schrie Gretchen Morgenthau in Richtung Café, »vergiss das Heißgetränk, wir marschieren nach Little Aberdeen und zeigen der ungemütlichen Mischpoke, wie die Avantgarde feiert!«
    Kyell erstarrte. Er hatte es doch gerade eben erst hinaus geschafft. Nicht frei von Stolz. Und nun stand er da. Ganz verloren. Ein Tablett in Händen und den erdigen Duft von indonesischen Arabicabohnen in der Nase. Seine blasse Haut wurde bleich. Er sah zu Arne, der ihm ein undefinierbares Grinsen schenkte, das zwischen Unsicherheit, Gewissensbissen und aufrichtigem Mitleid changierte. Gretchen Morgenthau packte ihre Handtasche, stupste ihren Assistenten an, er möge voranschreiten und den Weg weisen. Sie war guter Dinge. Vielleicht, so dachte sie, nahm dieser Tag ja doch kein gutes Ende, vielleicht gab es endlich die lang ersehnte Abwechslung, vielleicht sogar ein richtiges Drama.
    Ein Wind zog auf, aber er brachte keinen Regen mit, nur zischendes Geraune. Kälter wurde es, und steinern färbten sich die Wolken, als wollten sie warnen und drohen zugleich. Je tiefer sie hineingingen, desto mehr veränderte sich die Insel. Sie kamen in Gegenden, die weniger lieblich waren, nahezu ungestüm und rau und irgendwie klassisch. Insignien allerorten. Ein Bonbonpapier am Wegesrand, ein umgekipptes Fahrrad, rostige Briefkästen und ein streunender Hund, der wie ein Rudel nasser Schäferhunde roch. Die Zeichen waren eindeutig, da konnte nichts beschönigt werden. Meter um Meter näherten sie sich dem sozialen Brennpunkt Gwynfaers. Gefahr lag in der Luft, ganz ohne Zweifel. Früher einmal hatte Gretchen Morgenthau ein ausgeprägtes Faible für Verwahrlosung und zwielichtige Ghettos gehabt. Sie war immer von diesem Geruch fasziniert, diesem Geruch nach billigem Fleisch, süßem Parfüm und Zitrusreiniger. Und alles war so bunt und laut, und zu sehen gab es mehr als zu viel, und es hingen übergroße Unterhosen auf schlaff gespannten Wäscheleinen, von echten Menschen ohne Scheu, die Lippen aufgespritzt, die Bäuche prächtig, Plingpling im Gesicht, um den Hals und an den Händen. Sie mochte auch das Ungetüme, das Urwüchsige und die Gefahr, die an jeder Straßenecke lauerte. Jedes Mal aufs Neue ein Fest für alle Sinne. Und das Gleiche

Weitere Kostenlose Bücher