Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
ihnen zu schlagen und dabei Kanonenbeschuss und andere Unannehmlichkeiten zu riskieren. So fremd waren die fremden Heere ja meist auch nicht. Und zwar deshalb, weil Frankfurt grundsätzlich in der Mitte liegt: in der Mitte zwischen Hamburg und Mailand zum Beispiel. Oder in der Mitte zwischen Paris und Prag. Rein verkehrstechnisch gesehen sogar in der Mitte zwischen Amsterdam und Sankt Petersburg.
Nur wegen dieser mittleren, neutralen Lage hatte es sich ja als praktisch erwiesen, hier auf dem hochwassersicheren Hügel die Könige des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu wählen. (Später setzte man den Herren Römischen Königen bei der Gelegenheit auch gleich die Kaiserkrone auf, da es inzwischen auf dem Römerberg eine hübsche Kulisse für Jubelfeiern gab.)
Mit den Kaisern arrangierten sich die Frankfurter, indem sie jeweils einen der ihren zum kaiserlichen Schultheißen machten und im Stadtrat beschlossen, was sie wollten. In der Mitte auch der deutschen Lande gelegen, kamen sie zwar selbst wenig in der Welt herum. Dafür fiel aber zweimal jährlich in Form der Oster- und der Herbstmesse die halbe Welt bei ihnen ein – und das brachte mehr als genügend Gelegenheit, selbige kennenzulernen. Zumal die Welt oft genug gleich dablieb, wie die Brentanos, Bolongaros oder Simonettas aus Italien, die Gontards oder de Barys aus Frankreich, die Stockums oder Neufvilles aus Holland. Von den vielen Juden ganz zu schweigen. So konnte man Weltbürger sein und musste zugleich nie aus dem Nest heraus.
Die mittlere Lage lehrte also die Frankfurter früh, sich im Zweifelsfall nicht für eine Seite, sondern für ein kategorisches Sowohl-als-auch zu entscheiden. Und das hatte sich auch jüngst im Siebenjährigen Krieg wieder bewährt: Im Herzen war man natürlich protestantisch und sehr für den Alten Fritz – aber da man zugleich offiziell Reichsstadt und als solche katholisch war, schickte man dessen Gegner, dem Kaiser, brav die angeforderten Soldaten. Soldaten allerdings, die zeitlebens ihre Gemüsegärten statt ihre Gewehre gepflegt hatten und desertierten, wann immer sie konnten. So, wie die daheimgebliebenen Bewaffneten sich nicht rührten, als die Franzosen die Stadt «überrumpelten». Zu Deutsch: Die Franzosen waren angekündigt, man sah sie in Heeresstärke kommen, man ließ sie hinein und tat dann sehr überrascht, dass sie bleiben wollten – vier Jahre lang.
Inzwischen waren die Herren Besatzer natürlich wieder weg. Die Zimmer, die sie in jedem Haus requiriert hatten, waren zurückgegeben, die Typhusopfer, die sich leider bei ihnen angesteckt hatten, beerdigt. Nur ihre Straßenlaternen, die waren geblieben (eine teure, neumodische Spielerei, von den Franzosen dem Rat aufgezwungen, aber sehr praktisch für Messegäste).
Daher eben war am zweiten August 1771 gegen halb zwölf die Fahrgasse als Hauptverkehrsader recht gut ausgeleuchtet. Und der Herr Brentano erkannte alsbald auch, dass der stramm vor der Nonne mit Kind einhermarschierende Sergeant niemand anders war als die Ordonnanz des Jüngeren Herrn Bürgermeisters. (Dass die Person Brand hieß, wusste der Kaufmann allerdings nicht.)
Der Sergeant Brand wollte, wie jeder Frankfurter Soldat, mit Gefechten im Namen irgendwelcher Potentaten wenig zu tun haben. Deshalb hatte auch er im Siebenjährigen Krieg, als Gefreiter noch, die nötige pragmatische Haltung an den Tag gelegt, um ihn ohne Schaden für Leib und Leben zu überstehen. Aber seine Pflichten gegenüber der Stadt, dem Rat und dem Jüngeren Bürgermeister – die nahm er ernst. Und er legte darin einen starken, seiner reformierten Konfession entsprechenden calvinistischen Ehrgeiz an den Tag.
So strebte er in dieser Nacht mit derart pflichtbewussten, eiligen Schritten über die Fahrgasse in die Töngesgasse, dass die kleine, runde Schwester kaum hinterherkam, bog scharf auf dem Absatz nach links in die Hasengasse und klopfte sehr kräftig an die Tür des nächsten ums Eck liegenden Hauses. Das hieß, wie am Hauszeichen über der Tür dank Öllampen erkennbar, Zu den drei Hasen . Es war, wie jeder wusste, das Vaterhaus dreier stadtbekannter Sonderlinge: der Gebrüder Senckenberg. Die drei wurden wegen des Hausnamens boshaft oder auch liebevoll die drei Hasen genannt. Allerdings waren alle drei Herren bzw. Hasen inzwischen ausgezogen, was dem Sergeanten Brand jetzt ziemlich barsch und ungehalten von einer Dienstperson der neuen Besitzer mitgeteilt wurde. Der Sergeant, der natürlich zum jüngst
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