Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
noch hier residierenden Arzt Dr. Senckenberg gewollt hatte, disponierte flugs um: Während die hinterdrein trippelnde Schwester wiederum ins Japsen geriet, ging es die Hasengasse ganz hinunter, durch den Trierischen Hof und am Dom vorbei, wo es um diese Jahreszeit selbst nachts überwältigend nach dem roch, was die Metzger rundherum in ihren Verkaufsschirnen so liegen hatten.
Ah!, dachte der Herr Brentano, der aus Neugierde bis hierher gefolgt war (weiß man’s denn, ob einem gewisse Informationen über mögliche uneheliche Kinder des Jüngeren Herrn Bürgermeisters nicht einmal geschäftlich nützen könnten?). Jetzt schwante ihm, wohin es mit dem Säugling gehen sollte.
Die lange Schirn – auch sie stinkt im August zum Himmel nach altem Fleisch –, die stößt ja auf die Saalgasse, und dort wiederum steht das Hospital zum Heiligen Geist, samt zugehöriger Kapelle. (Da Beten meist mehr hilft als Aderlässe, ist die Kapelle nicht der unwichtigste Teil des Hospitals.)
Der Sergeant hielt tatsächlich vor der Spitaltür an, machte sich mit dem Klopfer bemerkbar und wurde, samt seiner Begleiterin, bald eingelassen.
IM VORJAHR, EIN ABEND ENDE NOVEMBER 1770
ES IST KALT in der Bierstube. Die Susann hat über ihren flanellenen Rock und die rotbraune Jacke noch eine zweite Kleiderschicht aus Hanauer Tuch gezogen und auch ihre beiden Strumpfpaare auf einmal an. Während sie am Zapfhahn steht, geht vorn die Tür auf, und zwei Fremde treten ein. Der eine ein Jude, ältlich und mausgrau. Der andere aber, Mitte, Ende zwanzig, baumlang und breitschultrig, in blauem Rock und weinroter Weste, ist das blühende Leben. Er lacht lauthals und ohne ersichtlichen Grund, als er seinen Sack mit Schwung auf den Boden ablädt, wirft dem Juden etwas Gutgelauntes auf Holländisch zu, schüttelt seine langen Glieder, reibt die wohlgeformten großen Hände gegeneinander und streicht sich dann mit der Rechten eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, während er mit der Linken den Hut nach hinten schiebt.
Die Susann räuspert sich in ihrer Ecke beim Bierfass und ruft hinüber: «Die Herren wollen übernachten?» Klingt ihre Stimme immer so dünn und brüchig, fragt sie sich plötzlich. Jesus, was für alberne Gedanken man manchmal hat.
«Jo, aso fir a Woch, wenn is meglech», sagt der Jude, der offenkundig nicht von hier und wahrscheinlich auch nicht aus Holland ist.
«Ich hol die Wirtin», beschließt die Susann, wischt die Hände an der Schürze und schlüpft nebenan in die Wohnstube der Frau Bauerin: «Schlafgäste. Ein fremder Jud, ein Holländer, Kaufleute wohl. Da der Namenszettel schon weg ist, kann ich ja allein−»
«Lasst nur. Ich mach das lieber selbst.»
In der Bierstube berät die Jüdin Hundchen, Dauergast im Einhorn , schon ihren eingetroffenen Glaubensgenossen: die Wirtin serviere außerhalb der Messezeiten sowieso kein Essen, schon gar kein koscheres, und er solle sich doch von dem Knecht Bonum die Mahlzeiten von nebenan aus der Judengasse holen lassen. Der Bonum werde sicher morgen in der Frühe vorbeisehen. Der mache ihr auch alles. Sie kann doch so schlecht laufen. Ihr Bein. Es will nicht mehr, wie es soll, das Bein. Ach!, alt werden ist nicht schön. Sie wollt, sie wär damals mit ihrem Mann seligen Angedenkens gleich mit in den Himmel.
«Und was ess ich?», fragt der junge Holländer mit breitem Akzent, wirft den Kopf zurück und lacht.
«Nu, werst missen verhungern», behauptet der Jude im Scherz.
«Das wohl nicht», mischt sich herankommend die Frau Bauerin ein. «Meine Magd, die Susann, kann Ihnen von über die Straße Essen aufs Zimmer bringen, wenn’s recht ist.»
Dem Holländer ist das recht. Da der Namenszettel für heut Abend schon beim Bürgermeister sei, erläutert die Bauerin, und man demnach das Eintragen auf morgen verschieben müsse, könnten nun gleich ohne weitere Formalitäten den Herren ihre Stuben angewiesen werden. Zu zweit in eine oder getrennt?
Die Herren wünschen getrennte Stuben, wenn denn solche zu haben seien. Die Susann wird mit der inzwischen neugierig aus der Küche eingetroffenen Christiane beordert, das Gepäck hochzuschleppen. Doch der Holländer hebt mit Schwung seinen Reisesack über die Schulter. «Zu schwer für hübsche Mädchen», sagt er, worauf die Christiane hochnäsig kichert, wahrscheinlich wegen der verkorksten, holländisch klingenden Zischlaute («sshu sshwer»). Der Holländer wendet sich da natürlich gleich zur Christiane hin und wirft ihr irgendwas
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