Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
oder habe sich krank irgendwo niedergelegt. Den Schlüssel zu den Fremdenzimmern könne sie natürlich nicht herausrücken, aber den Schwestern sei es unbenommen, auf den für alle offen stehenden Treppen und Gängen nachzusehen. Sie für ihren Teil müsse jetzt erst einmal zu der neuen Magd in die Küche, um festzustellen, ob das Essen bald so weit sei. Dort werde sie dann auch gleich sich erkundigen, ob die Magd vielleicht von der Susann etwas gesehen habe.
Die Schwestern verließen die Wohnstube über die Hoftür. Nachdem die Ursel der Dorette den Vortrag der Bauerin ins Ohr wiederholt hatte, nahm sich die eine die Vorder- und die andere die Hinterstiege vor. Und obwohl die Bauerin das bestimmt nicht gewünscht hätte, rief zumindest die Hechtelin auf jedem Stockwerk laut nach der Verschollenen. Ohne Erfolg allerdings. Nirgendwo eine Spur von der Susann.
Ratlos traf man sich einige Zeit später wieder auf dem Hof. «Nichts», zischte die Königin mit vielsagender Miene, «und bei dir?» Worauf die Hechtelin bloß den Kopf schüttelte.
Schweigend standen sie beieinander auf dem Hof, sahen sich nicht an, bis die Hechtelin sagte: «Man müsste ja eigentlich …», und dann blickten beide Schwestern unwillkürlich in die dunkle Ecke, wo der Durchgang zum zweiten, hinteren Hof abging.
Der Stall.
«Nein», sagte die Ursel heftig, «da geh ich nicht rein. Und du auch nicht.»
«Ich meine ja nur … Wenn wir einfach nur einen Blick reinwerfen tun, ob die Susann zu sehen ist.»
«Nein. Ich mach das nicht. Mir gruselt vor dem Stall. Wir könnten aber die Waschküch noch probieren.»
Obwohl es auf dem Weg zur Waschküche direkt am Stall vorüberging, unterließ es dann doch auch die Dorette, hineinzusehen. Sie klopfte nicht mal an der Tür. Wenn die Susann hier drin war, dann wollte sie das plötzlich gar nicht mehr wissen.
In der Waschküche fand sich natürlich keine Susann, aber das viele geronnene Blut auf dem Steinboden war nicht zu übersehen. Der Dorette hob sich der Magen, und beide Schwestern waren froh, als sie endlich wieder zurück auf dem großen, lichten Vorderhof waren. Am Brunnen spritzten sie sich kaltes Wasser ins Gesicht.
«Sie wird sich doch nichts angetan haben», jammerte die Hechtelin, die sich mit der Hand auf den Brunnenrand stützte.
«Ach wo! Eher liegt sie bei dem Kindsvater im Bett, wer auch immer es sein mag», fauchte die Ursel. «Das säh ihr doch recht, dem Aas. Was bei der im Kopf rumgeht, das wüsst ich zu gerne. Ich sag dir, Dorette, jetzt hat sie’s auf die Spitze getrieben. Das wird bös enden. Wenn sie nicht heut Abend noch auftaucht mit einer guten Erklärung, dann wird die Bauerin sie anzeigen.»
«Ursel! Nicht so laut!»
«Herrgott, du verstehst einen ja sonst nicht.»
In der Bierstube hörte man nacheinander die Fenster zugehen. Eine Minute später trat die Bauerin heraus und kam auf die Schwestern zu. «Nun geht Ihr aber besser fort, gelle. Die Susann scheint ja doch nicht hier zu sein. Ich hoff für Euch, dass Ihr sie noch anderswo findet. Sollte es denn wirklich an dem sein, dass sie heimlich geboren und sich aus dem Staub gemacht hat … Man möcht es noch gar nicht glauben. Hat sie mir nicht gestern Nacht noch versprochen, sie will mir heut das Zinn reiben helfen!» (Diese Tätigkeit hatte die Bauerin wegen der vielen für sie heute angefallenen Extraarbeit leider entgegen ihrem Vorsatz noch nicht in Angriff nehmen können.)
«Sie wird beim unserm Bruder sein», behauptete die Hechtelin, klang aber nicht gerade überzeugt. «Die Ursel hat nämlich heut Morgen so arg mit ihr geschimpft, sie wollt sie keinen Tag mehr bei sich leiden. Das hat sie vertrieben. Und dass Ihr sie schon wieder nehmen wolltet, das wusste sie noch nicht.»
Diese Worte der Hechtelin erbosten die Königin. «Ach was! Soll ich jetzt schuld sein? Was bist du impertinent, wer war’s denn von uns beiden, der das Mensch aufgenommen hat mitten in der Nacht? Jetzt platzt mir aber der Kragen!»
Die Bauerin seufzte. «So, jetzt beruhigt Ihr Euch beide wieder, gelle, und geht Euch lieber schnell nach ihr erkundigen, solange es noch hell ist. Dann werden wir weitersehen.»
FREITAG, 2. AUGUST, GEGEN ACHT UHR ABENDS
NIKOLAUS BRAND, Sergeant bei der Frankfurter Garnison, war mit vierundvierzig Jahren das älteste der Brand-Kinder und kannte seine jüngste Schwester Susann nicht gut. Nur mäßig interessierte er sich für die Schwierigkeiten, die es offenbar jetzt wieder mit ihr gab. Ganz
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