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Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Titel: Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
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männliches (das winzige Schniedelchen!), das sein elendes kleines Menschenleben ausgehaucht hatte bald nach der Geburt, und er, Claudy, muss nun Zeuge sein, wie an dem armen Ding herumgetastet und herumgeschnippelt wird. Eben gerade gab es ein unsägliches Geräusch, beim Eröffnen des Brustkorbs, da knackten und ratschten die Rippchen und das knorpelige Bindegewebe, dass ihn ein böses Würgen anfiel, was er glücklicherweise jetzt wieder im Griff hat. Der Leiter des Peinlichen Verhöramtes, der Jüngere Herr Bürgermeister, weiß schon, warum er diese Aufgabe delegiert und ihm, dem Claudy, zuschiebt. Und dabei so tut, als sei das gar nichts weiter, so eine Sektion. Es ist freilich leicht, den Ungerührten zu spielen, wenn man die Sache nicht selbst miterleben muss.
    Dass die Leiche ein winziges Neugeborenes ist, hat einen Vorzug: Der Claudy sieht bislang so gut wie nichts von der Prozedur.
    Es ist nämlich recht eng auf dem Gang vom Spital, wo mangels besserer Räumlichkeiten die Sektion stattfindet. Es drängen sich wie die Raben um den winzigen Kinderleichnam die sechs geschworenen Chirurgen, von denen keiner draußen bleiben will aus dem Kreis, von denen jeder einmal anfassen und einmal schneiden will und seinen Senf dazugeben. Und aus der zweiten Reihe lugen den Chirurgen großspurig die Herren Stadtphysici über die Schulter, die den unstudierten Knochenschreinern nicht übern Weg trauen und sie zwar gerne das Messer führen lassen, aber die Interpretation von dem, was man hier sieht, in belehrendem Ton gerne selbst vornehmen wollen. Und allesamt sind sich untereinander höchst uneinig.
    Wurde die Nabelschnur geschnitten, gebissen oder gerissen? Ist die Lunge sehr, wenig oder gar nicht aufgeblasen? Ist sie blassrot oder dunkelrot? Enthält die vena cava viel oder wenig Blut? Ist die Verletzung an den ossa bregmatis auf einen Fall oder auf Gewalteinwirkung zurückzuführen? Vor oder nach dem Tod? Zu jeder Frage gibt es ein langes, aufgeregtes Gerede, wobei jeder jeden unterbricht und alles derart in medizinischem Kauderwelsch über- und untereinander wegredet, dass der Claudy längst zu folgen aufgegeben hat. Er versinkt gerade in Gedanken theologischer Art (zu denen er in Mußestunden neigt), und zwar in der Richtung, dass wenig in der Bibel so drastisch und tragisch wahr erscheint wie ihre Lehre von der göttlichen Strafe, wonach das Weib in Schmerzen seine sterblichen Kinder gebären solle (wie ja überhaupt das Alte Testament das Leben des Menschen auf Erden allzu wohl beschreibt, wohingegen die Erlösung im Neuen leider ziemlich im Geistigen verharrt) − eben da öffnet sich plötzlich der Kreis um den Wurm. Das Kind liegt aufgeklappt wie eine kaputte Puppe. Der Chirurg Behrends tritt vor mit einem Haufen tropfenden, rötlichen Geglibbers in den Händen, macht zwei Schritte durch den Gang und kippt den Haufen in eine mit Wasser gefüllte Schüssel am Boden, dass es spritzt.
    «Schwimmt!», konstatiert er. Die Herren Collegae lassen die Leiche links liegen und scharen sich in der Hocke um die Wasserschüssel. Mit Scheren bewaffnet schneiden sie gemeinschaftlich mal hier, mal da an dem Etwas herum, was der Claudy inzwischen als Lunge erkannt hat. Nebst Herz offenbar. Denn das Herz, hört er, schwimme nicht und sei zu Boden gesunken.
    Als die Herren von der Schüssel ablassen, ist das Wasser rot gefärbt, und an der Oberfläche schwimmt die Lunge in vielen einzelnen, abgeschnittenen Bröckchen.
    Der Ratsschreiber Claudy wird Lunge wohl länger nicht mehr essen können. Zumal es nun richtig unangenehm zu riechen beginnt, denn die Herren eröffnen, ratsch, ratsch, am Sektionstisch dem Wurm vollständig den Bauch. Ist die Leber nicht ein bisschen bläulich, und wenn ja, was hat das zu sagen? Lange Diskussionen. Jeder glaubt, mehr Erfahrung zu besitzen. Der Doktor Pettmann sagt dem Doktor Grammann, dass er als bloßer Geburtshelfer sich da raushalten solle, wohingegen der Doktor Grammann findet, dass er wegen zweier durchgeführter Kaiserschnitte viel besser Bescheid weiß. Worauf sich ein Chirurg einmischt und beklagt, dass solche Operationen keinesfalls ohne Hinzuziehung eines Chirurgen durchgeführt werden dürften, und wo die Kaiserschnitte denn stattgefunden hätten, und er wolle sich bei der Stadt beschweren. Zugleich hält der Seniorchirurg den Physicis allgemein vor, sie hätten vor lauter Theorie und staubigen Büchern von der Praxis keine Ahnung und könnten nicht mal einen Bruch richten, fährt aber

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