Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
zwangen, diese neuen, monströsen Befestigungsanlagen aufzutürmen. Eigentlich eine sinnlose Geldausgabe. Aber sie hatte auch ihr Gutes: Unter Umgehung des ursprünglichen Bestimmungszwecks pflanzte man, kaum waren die Besatzer abgezogen, Bäume auf den Wällen, ließ die Mauern und Türme ein bisschen pittoresk verfallen und hatte nun die schönste hochgelegene Ringpromenade, deren sich eine Stadt diesseits der Alpen rühmen konnte. Nur ein bisschen unpraktisch war es, wie gesagt, zur Messezeit … So ließ sich in der Osterwoche 1771 einmal wieder ahnen, dass der schwedische Festungsring für eine europäische Handelsmetropole ersten Ranges allmählich zu eng wurde.
Am Dienstag früh ist auch das Einhorn , kein ganz kleiner Gasthof, bis aufs letzte halbe Bett belegt. Die Susann findet sich zwischen Bergen von Viktualien: ein knappes Dutzend nacktgerupfter Hühner, deren Federn noch umherfliegen, ein Lämmchen, das sie wenigstens nicht selbst hat häuten müssen, ein Hecht und ein Haufen Weißfische, mindestens eine Woche alt (die Sachsenhäuser Fischer pflegen vor der Messe einen Vorrat zusammenzufischen), Sauerkraut im Topf, getrocknete, gestern schon ausgelesene Erbsen und Bohnen im Sack, nach der langen winterlichen Lagerzeit muffige rote Rüben, weiße Rüben und in Ringen getrocknete Äpfel, teils angeschimmelte alte Zwiebeln und junge Schlotten samt ein bisschen anderem, spärlichem frischem Frühlingsgrün, und schließlich Graupen, Mehl, Schmalz, Öl, Zucker und Butter. Sie hat für um die achtzig Personen zu kochen, da die Frau Bauerin in der Messezeit ausnahmsweise eigenes Essen servieren darf. Was die Hausgäste nicht verspeisen, von denen wie üblich viele Juden sind, das werden zweifellos von der betriebigen Fahrgasse aus zur Mahlzeit hereinkommende christliche Kaufleute verzehren.
Die Susann ist fürs Kochen von manch anderen Diensten entbunden. Worüber sie nicht glücklich ist. Im Gegenteil. Die Susann fühlt sich in der Küche wie eingesperrt. Sie hatte sich ja so auf die Messe gefreut! Ganz allgemein, wegen der Abwechslung und der Trinkgelder und der Schaubuden auf der Neuen Kräme, und im Besonderen, weil sie so gewisse Hoffnungen und Erwartungen gehegt hatte. Von wegen es könnt ja sein, vielmehr, es ist sogar wahrscheinlich, dass eine gewisse Person anlässlich der Messe aus Petersburg zurückkehrt, mit Bernstein oder Pelzen von dort, oder was auch immer man in Petersburg günstig bekommt, um die Ware hier loszuschlagen und sich danach wieder auf den Weg in die holländische Heimat zu machen. Und wenn denn die gewisse Person die Susann anträfe und man sich noch gut verstünde, dann wäre ja nicht auszuschließen, vielmehr, es wäre vielleicht sogar zu erwarten, dass man sich einig würde über eine gemeinsame Zukunft. (Weshalb hätte er ihr sonst geschrieben zum Abschied, wenn nicht, um dies anzudeuten?)
Und nun muss sie hier hinten in der Küche sitzen, hundert Handgriffe gleichzeitig tun und bekommt vor lauter Hühnerinnereien Herausrupfen und Suppe Ansetzen und Teig Kneten nicht mit, wer vorn im Haus eintrifft. Geschweige denn, dass sie die Gelegenheit hätte, mal ein Viertelstündchen durch die Altstadt zu flanieren, wo man zur Messezeit alle Sprachen der Welt hören kann. Die Fahrgasse mit all den betriebigen Gasthöfen zum Beispiel würd sie so gern mal hinuntergehen, dann um den Dom herum zum Römerberg, wo die eigentliche Messe anfängt, und natürlich die Neue Kräme hoch, die mit Buden, Ständen und Volksbelustigungen bestimmt völlig zugebaut ist, immer aufmerksam, um ihn, vielleicht, irgendwo zwischen den Menschenmassen zu entdecken.
Denn wenn er in Frankfurt wäre oder während der langen Messe noch kommen würde, dann musste er natürlich nicht unbedingt im Einhorn absteigen. Aber dass er, wie alle Kaufleute, sich tagsüber irgendwo im Messegewimmel finden würde, das war klar. Man musste ihn nur suchen.
Und die Susann sitzt hier in der Küche fest. Ohnmächtig. Ausgeliefert dem Willen und den Launen anderer. Die Christiane zum Beispiel, die könnte über ihr Schicksal entscheiden – wenn der Jan etwa die Bierstub beträte heute früh oder morgen oder übermorgen und sich ein Bier oder Essen bestellen und der Christiane sagen würde, er suche die Susann, die im letzten Jahr im Einhorn gearbeitet hat, die würde er gern einmal wiedersehen. Dann wäre die Christiane aus purer Bosheit imstande und würde ihm sagen: Die Susann sei schon lange nicht mehr im Haus, das faule
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