Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
achtundzwanzig Kreuzer. Was nicht einmal als eine Anzahlung auf Schuhe zu werten war.
Selbst das hätte ihr noch keine Sorgen bereitet – wenn sie denn dem Schuster hätte sagen können, sie werde ihm wenigstens die erste Hälfte am Ende der Messe zahlen. Aber so, wie die Arbeiten im Haus verteilt waren dieses Mal, da würde sie kaum ausreichend einnehmen. Da müsste sie ja lügen, wenn sie dem Schuster Wetzel sagen wollte, gleich nach der Messe bekomme er sein Geld.
Der Schuster Wetzel ist natürlich der, zu dem sie geht. Den kennt sie seit Kindertagen, als Nachbarn der Eltern, der hat ihr schon das allererste Paar Mädchenschuhe angemessen, und dessen Vater hat ihrem Vater zeit seines Lebens die Schuhe gemacht. Um dessen Kinder und Küche hat sie sich sogar gekümmert, bevor sie das erste Mal richtig fest in Dienst ging, in der Zeit, als die erste Frau Wetzelin krank und später dann gestorben war. (Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, hätte eine der Brand-Töchter den verwitweten Wetzel geheiratet. Aber der hatte ohne viel Aufhebens die Schwester seiner ersten Frau genommen, zehn Jahre älter als er selbst.)
Das Dumme ist, dass die Susann ihr letztes Paar Schuhe nicht beim Wetzel gekauft hat, sondern in Mainz, gegen Ende ihrer dortigen Dienstzeit. Und als sie dem Wetzel, wieder in Frankfurt, zufällig begegnete, hatte er einen kühlen, vielsagenden Blick auf ihre Füße mit den damals niegelnagelneuen und wirklich besonders schönen Schuhen geworfen. Und zweifelnd die Brauen gehoben, als sie ihm freimütig erklärte, sie sei nun einmal, als der Kauf nötig wurde, noch in Mainz gewesen. Das nächste Mal wolle sie aber ganz bestimmt wieder zu ihm kommen!
Und jetzt konnte sie ihm nicht einmal eine Anzahlung geben. Beklommen tritt sie in die düstere, ledrig-muffig riechende Werkstatt, wo zwischen hohen Regalen eine krumme Gestalt über der Arbeit sitzt wie eh und je. Es ist so dunkel hier drinnen – wenn sie nicht wüsste, dass die Gestalt der Wetzel ist, sie würde ihn nicht erkennen.
«Ei, die Susann Brandin, welch seltener Gast», begrüßt er sie, fast ohne aufzusehen. Die Susann ignoriert den boshaften Unterton. Mit der Herzlichkeit alter Bekanntschaft fragt sie nach der Gesundheit vom Schuster selbst, von den Kindern und von seiner Frau (nach deren Gesundheit muss sie eigentlich nicht fragen, weil sie die Frau aus dem Hinterzimmer schrecklich husten hört genau wie weiland ihre Schwester). Und weil er wenig sagt, erzählt sie ein bisschen von sich, wie es ihr so geht. Inzwischen kommt die zweite Frau Wetzelin, die auch Ohren hat, selbst herein. Alt, mager und krank sieht sie aus, begrüßt die Susann mehr als kühl und setzt sich streng schweigend neben die Tür wie eine Aufseherin. Kaum sitzt die Wetzelin, will sich nach ihr auch die älteste Tochter durch die offene Tür schleichen, das Evchen, das noch immer kindlich aussieht, obwohl es schon dreizehn oder vierzehn sein muss. Da packt die Stiefmutter das Kind am Arm, schiebt es wieder hinaus und zischt wütend etwas. Hinter dem Mädchen schließt sie fest die Türe, rückt den Stuhl davor. Rasselnd geht ihr Atem.
Die Susann, die schon freudig «Evchen!» gerufen hatte, steht sprachlos. Was war denn das? Da fängt plötzlich der Schuster Wetzel an zu husten wie vorhin seine Frau, der Anfall nimmt kein Ende, man muss fürchten, dass der Mann erstickt, sein Spucknapf füllt sich zusehends, und die betretene Susann ahnt, dass man in der derart gestraften Familie Wetzel gewisse Entschuldigungen hat für unterkühltes oder wunderliches Verhalten. Warum hat ihr die Dorette nicht erzählt, wie schlimm es um die Wetzels steht? Dann wäre sie früher einmal vorbeigekommen. Sie wünscht sich jetzt umso mehr, dass sie wenigstens Geld dabeihätte.
Weil weder der Schuster noch seine Frau gesprächiger werden, bleibt der Susann nichts, als jetzt ziemlich bald die elend kaputten Mainzer Schuhe vorzuführen. Als der Wetzel sich erwartungsgemäß zum Flicken oder Besohlen außerstande erklärt, bittet sie um neue. Der Schuster erhebt sich krumm und kurzatmig, sucht in dunklen Ecken nach dem richtigen Leisten. Da beginnt sie, nach und nach die vertrackte geldliche Lage zu schildern, und dass sie leider vor dem Ende ihres übernächsten Dienstvierteljahres, das erst zum einunddreißigsten Juli ansteht, eigentlich nichts als ein paar Kreuzer fest versprechen kann. Am ersten August aber, so viel ist sicher, da kann sie ihn komplett auszahlen. Der Wetzel murmelt, fürs
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