Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Anschreiben sei er wohl wieder gut genug, und klopft mit dem Leisten gegen das Regal. Die Susann spürt, wie ihr Gesicht heiß wird, und sucht nach Worten, da sagt von hinten laut und deutlich die Frau Wetzelin: Man würd ja nichts sagen, man würd ja gern gefällig sein, wenn denn die Susann ein honettes, ehrbares Mädchen wär.
Was soll denn das heißen, fragt die Susann aufbrausend nach der ersten Sprachlosigkeit, seit wann ist denn sie kein ehrliches Mädchen mehr?
«Na, was man so hört», sagt die Frau Wetzelin, und fast zugleich: «Sei still!» ihr Mann.
Und dann setzt der Wetzel sich wieder hin, Leisten in der Hand, und teilt der Susann kurzatmig mit, um ihrer braven Schwestern und ihres Vaters willen werde er ihr die Schuhe machen. Und er rechne pünktlich am Abend des ersten August mit den drei Gulden. Drei, jawohl. Zwei Gulden pro Paar Schuh, das war früher einmal. Die Zeiten hätten sich geändert. Sie könne die Schuhe in einer Woche abholen.
Verständlich, dass sich die Susann danach nicht mehr lange in der Wetzelischen Werkstatt aufhält. Keine halbe Minute später tritt sie verstört auf die Gasse.
Es rauscht ihr im Kopf. Geistesabwesend geht sie vor sich hin und merkt erst im Gedränge an der Bartholomäuskirche, dass sie die falsche Richtung genommen hat. Sie gilt nicht mehr als honettes Mädchen bei den Leuten? Um Himmels willen! Das kann doch nicht wahr sein! Oder? Nein! Es hat doch nicht etwa die Christiane diese erfundene Geschichte von ihr und dem langen Konstabler herumerzählt, dass sie, Gott bewahre, von dem schwanger sei? Jesus! Was soll sie nur tun, um sich dem zu erwehren?
Doch dann, an den Brunnen gelehnt, beruhigt sie sich. Das kann ja alles nicht sein. Wenn die Christiane dergleichen erzählt hätte, wenn so etwas über sie umginge, dann wüsste sie das schon. Dann hätte es ja lange vor den Wetzels die Frau Bauerin erfahren und sie zur Rede gestellt. Zum Mindesten zur Rede gestellt. Die Frau Bauerin darf ja so etwas gar nicht dulden bei ihren Mägden. Und ihre Schwestern, die hätten es auch schon gehört und würden ihr bei einem solchen Gerücht die Hölle auf Erden bereiten.
Sie hat die Wetzelin missverstanden. Bloß weil sie wegen des Holländers noch immer ein schlechtes Gewissen hat. Die Wetzelin weiß gar nichts. Außer, dass sie das übliche Gejammer von der Ursel kennt, ihre kleine Schwester wär so unstet und unbeherrscht. Die hat sie doch nur aufs Geratewohl piesacken wollen, weil sie und ihr Mann seit Jahren wegen der Mainzer Schuhe einen Groll auf sie haben und vielleicht inzwischen wegen ihrer eigenen schlechten Gesundheit sowieso auf die ganze Welt.
Eigentlich hatte die Susann ihre Freiheit für einen schnellen Rundgang durch die Stadt nutzen wollen, in der Hoffnung, vielleicht, vielleicht dem Jan zu begegnen. Aber zum Flanieren ist ihr jetzt die Lust vergangen. Und der Mut ebenso. Bloß nichts tun, was bei der Frau Bauerin einen schlechten Eindruck hinterlassen könnte.
Vielmehr marschiert sie so schnell sie irgend kann (sie zieht die schlechten Schuhe aus und geht barfuß) zum Einhorn , meldet sich als heimgekehrt bei der Frau Bauerin (die beruhigenderweise genau wie immer zu ihr ist) und macht sich fleißig an die Arbeit.
3. AUGUST 1771, DREI UHR NACHMITTAGS
VIER MONATE später war das Wetzelische ein Trauerhaus. In der Werkstatt lag der tote Schuster aufgebahrt. Die Tochter Eva saß bei der ausgemergelten Leiche, die Hände im Schoß gefaltet, und schluckte unentwegt.
Seit Stunden sitzt sie schon hier. Eigentlich würde sie lieber weglaufen, irgendwo hinaus, an den Main oder vor die Stadt in die Gärten, ganz egal, nur weg, nur einmal etwas anderes sehen als diese dunklen Stuben mit ihrem Geruch nach Tod und Verzweiflung. Vielleicht könnte sie dann auch endlich wieder etwas essen. Im Hintergrund hustet erbärmlich die Stiefmutter, und die Eva kann nicht anders, sie hofft, dass die Stiefmutter nicht das letzte bisschen Geld für Trauerkleidung ausgeben wird. Wie lange wird sie denn die noch tragen, sie ist ja fast schon selbst zu schwach, um auf die Straße zu gehen, es wird kaum mehr als Wochen dauern, bis auch ihre Bestattung bezahlt werden muss. Und dann schämt die Eva sich so für den Gedanken, und es schüttelt sie, und plötzlich weint sie zum ersten Mal und kann gar nicht aufhören, sie zuckt hin und her, das Wasser läuft und läuft ihr aus den Augen, aber sie sieht zu, dass sie nur kein lautes Geräusch dabei macht, die kleinen Geschwister
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