Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
seinem jüngsten Kollegen, als der ihm beipflichtet, mit den Worten übern Mund: Ob er nichts andres zu tun habe, als dämlich herumzustehen und ihm im Weg zu sein? Der Doktor Gladbach beklagt unterdessen, dass die Medizinalreform damals nicht durchgegangen sei, ansonsten hätte man seit Jahren ein schönes anatomisches Theater, wo jeder der Herren wöchentlich zwei Leichen sezierte, dann gäbe es solche Meinungsverschiedenheiten nicht. Worauf alle das neuerdings in Planung befindliche Senckenbergische Bürgerhospital (samt anatomischem Theater!) sowie dessen exzentrischen Stifter und die skandalumwitterte Familie Senckenberg im Allgemeinen ausführlich zu diskutieren beginnen.
Der Lizenziat Claudy will sich gerade wieder seinen Gedanken hingeben, da trägt ihm nach einem furchtbaren Plopp! der Chirurg Behrends einen Dickdarm samt Blase entgegen, kniet sich hin und versteigt sich, beide auf dem Steinboden regelrecht auszudrücken. Am Ende greift er mit drei Fingern hinein. «Das Mekonium!», ruft er triumphierend und hält eine mit zähem schwarzem Kindspech verschmierte Hand empor.
Was dies mit der Frage zu tun hat, die hier geklärt werden soll, nämlich, ob das Kind durch natürliche oder widernatürliche Ursachen zu Tode gekommen ist, das will dem Claudy nicht gleich einleuchten, aber er ist ja, wie gesagt, auch kein Mediziner. Und das ist auch gut so, denkt er, als aus dem überfüllten Krankensaal nebenan trotz der geschlossenen Türe wieder jammervolle Laute einer armen Seele dringen.
Ganz zum Schluss wird dem Würmchen noch die Hirnschale aufgesägt, und er muss den Blick auf das kleine Gehirn ertragen, während die Häute davon abgeschält werden. Die Herren Heilkundigen diagnostizieren, dieses Hirn sei furchtbar weich und blutunterlaufen. Und so sieht es in der Tat auch aus.
All dies vollbracht, wird der Wurm grob wieder zugenäht und auf einen Handkarren geworfen, für den Weg schon zu einer unrühmlichen, ungetauften Beerdigung am Gutleuthof.
Das Sektionsprotokoll diktiert dem Ratsschreiber Claudy der rangälteste Stadtphysicus Dr. Gladbach mit vorgerecktem altem Vogelkopf in die Feder. Unter Sekundierung aller anderen Beteiligten, was mindestens noch einmal so lange dauert wie die Sektion selbst.
Und dann nimmt der Herr Ratsschreiber fälschlich an, dass er das Schlimmste für die Woche geschafft hat.
DIENSTAG, 9. APRIL 1771
ALS DIE SUSANN nachmittags mit einem Korb Wäsche eilig die Stiege hinunterpoltert, verrutscht sie in ihrem Schuh, stolpert, fliegt samt Wäschekorb durch die Luft und landet auf dem glücklicherweise nicht weit befindlichen nächsten Treppenabsatz. Nach dem ersten Schreck sammelt sie sich und die Wäsche zusammen und bemerkt, dass sie, Gott sei Dank, nichts Ernstes an Leib und Gliedern abbekommen hat. Der Schuh allerdings, der linke, die Ursache wohl für den Sturz, der ist nun endgültig hinüber. Schon seit Monaten war bei dem Paar das Leder an Ferse und Ballen über der Sohle morsch und aufgerissen, so weit, dass Annähen nicht mehr möglich war. Die Susann hat beim Gehen höllisch aufpassen müssen, dass die Füße nicht seitlich herauskommen aus den Schuhen. Beim Linken ist das Leder jetzt rundherum auf, hängt nur noch am Spann für ein paar Daumen breit an der Sohle, und beim Rechten klafft ein großer Riss vom großen Zeh bis zur Schnalle. Dem Paar Schuhe kann sie ade sagen. Und die Frau Bauerin leidet es nicht, wenn ihre Mägde ohne gehen.
So bekam die Susann, unverhofft, trotz Messetrubel Erlaubnis und Gelegenheit, am frühen Abend das Einhorn für einen Gang zum Schuster zu verlassen. Aber viel Freude hatte sie nicht an der ersehnten kurzen Freiheit.
Auf dem Hinweg war sie schrecklich nervös wegen des Geldes. Denn sie konnte sich in Wahrheit ein neues Paar Schuhe gar nicht leisten, was sie aber der Bauerin nicht gestanden hatte. Im letzten Herbst nach der Messe erst hatte sie sich aus den Ersparnissen von mehreren Jahren neue Kleider zugelegt, etwas Wärmeres für kalte Tage, den Berliner flanellenen gewürfelten Rock, um genau zu sein, und die braune Jacke dazu und ein Bausch neue Ärmel, was insgesamt etwas teurer war, als sie bezahlen konnte. Mit ihrem letzten Vierteljahreslohn hatte sie noch Schulden aus diesem Kauf getilgt. Und ihren Trinkgeldanteil bekam sie von der Christiane nur sehr teilweise ausgehändigt («Was ich nicht hab, kann ich dir auch nicht geben, gelt!»). Susanns ganze verfügbare Barschaft belief sich daher auf nur knapp
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