Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
nebenan müssen nicht wissen, wie verzweifelt sie ist. Denen muss sie die Starke vorspielen.
Als sie schon länger so still vor sich hin schluchzt, gehen draußen Schritte auf der Treppe. Sie wischt sich mit dem Ärmel die Augen, und eine fremde Weibsperson tritt ein.
«Meine Güte!», ruft die Fremde erschrocken, als sie in der Dunkelheit die Leiche erkennt. «Ist der Schuster gestorben?»
Die Eva nickt.
«Du bist die Tochter?»
Die Eva nickt wieder.
«Ich such wen», erklärt die Person, «die Susann Brandin, die kennt ihr doch?»
Noch ein Nicken.
«Und? Ist die bei euch?»
Kopfschütteln.
«Hast sie gesehen in letzter Zeit?»
Kopfschütteln.
«Es ist sehr wichtig, dass ich sie find. Wennst sie siehst oder von ihr hörst, kannst mir gleich Bescheid geben? Ich bin die Christiane Rupprechtin und wohn bei meiner Tante in der Bendergass, an der Ecke zum Krautmarkt. Es soll auch dein Schaden nicht sein.»
Und ganz bestimmt nicht der Schaden von der Christiane, die geschäftig wieder abzieht auf ihrer Suche nach der Susann. Irgendwo muss die doch abgeblieben sein. Irgendjemand muss sie doch gesehen haben. Und irgendeiner oder irgendeine von den sauberen Bekannten von der Susann, die die Christiane jetzt abklappert, wird sie versteckt halten, das Luder, ganz gewiss. Absichtlich versteckt. Aber das wird ihr nichts helfen, denn die Christiane würd es doch sofort merken, wenn irgendwer sie belügt.
Am allerwahrscheinlichsten hält sich das Aas natürlich bei dem Kindsvater auf. Aber wer das ist, da ist sich die Christiane keineswegs sicher, trotz ihres Verdachts gegen den gewissen Konstabler, mit dem sie aber die Susann nur ein einziges Mal gesehen hat, und zugegeben, das wirkte nicht, als hätten sie’s fest miteinander. Doch wer sucht, der findet. Und sie kennt doch die Susann gut. Wenn sie das nicht rauskriegt, wo die sich verkrochen hat, wer denn sonst? Und dann wird sie sich endlich schadlos halten dafür, dass die Susann sie bei der Frau Bauerin aus dem Dienst geekelt hat, das gemeine, liederliche Biest. Mehr als schadlos. Denn die fünfzig Reichstaler, die, wie sie vorhin ganz zufällig und mit unbändiger Schadenfreude gehört hat, großzügig ausgesetzt wurden von der Stadt als Belohnung für den, der die Susann verrät, die Hurenschlampe, die Mörderin, diese fünfzig Reichstaler also hätt sich die Christiane ja in zehn Jahren Dienst nicht ersparen können. Was wäre das eine Gerechtigkeit, eine göttliche, wenn durch ihre Hand jetzt das Luder ans Messer geliefert würde. Und sie fürstlich entlohnt würde dafür.
MITTE APRIL 1771
DIE SUSANN hat endlich ihre neuen Schuhe, und es verspricht, wie gestern, ein warmer, fast sommerlicher Tag zu werden. Was leider heut früh auch den Mist unter den Aborten zum Stinken bringt. Der türmt sich, denn bei der Frau Bauerin kommt die teure Reinigung durch den Scharfrichtersknecht immer nur alle Jubeljahre dran. Na, von dem üblichen Gestank lässt sich die Susann ihre heute ziemlich gute Laune nicht verderben.
Zwar ist sie am Sonntagabend das ganze Messegewimmel in der Altstadt abgelaufen und hat von dem Jan keine Spur gesehen. Sie hat nicht mal nach ihm fragen können bei irgendwelchen Holländern, von denen sich eigentlich genügend in den Gassen tummelten. Sie kennt ja nur seinen Vornamen, und weil der Nachtzettel schon weg war an dem Abend, als er mit dem Juden kam, und es danach vergessen ging, wurde der Name im Haus auch nie eingetragen. Sie kann doch jetzt nicht einfach hergehen und einen beliebigen Holländer fragen, ob er zufällig einen anderen Holländer namens Jan kennt! Der müsste sie mit Fug und Recht auslachen. Sie weiß ja nicht mal, aus welchem Ort der Jan stammt.
Eines aber hat sie herausbekommen. Sie hat nämlich einen polnischen Juden, während sie Interesse an seinen Waren vorgab, über Petersburg befragt. Leider war der dort zwar noch nie gewesen. Doch sehr wohl mehr als einmal in Wilna. Was, hat er behauptet, auf dem Weg liegen soll nach Petersburg. Und er hat ihr gesagt, eine Reise nach Petersburg dauere Monate. Schon bis Wilna dauere es Monate. Und wenn jemand ein paar Wochen vor Weihnachten erst von Frankfurt nach Petersburg aufgebrochen sei, dann werde sie ihn wohl kaum im folgenden April zurückerwarten können. Es sei denn, es handele sich um einen Kurier.
Diese Auskunft hatte die Susann beruhigt. Hatte der Jan nicht ohnehin angedeutet, er wolle eine Weile in Petersburg bleiben? Es war ja viel zu früh, jetzt schon mit ihm zu
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