Gretchen
Abmachung mit Gretchen war hinfällig. Sie hatte gedroht, wieder zu töten, wenn er sich umbrachte, und jetzt hatte sie trotzdem wieder angefangen. Es stand ihm frei zu tun, was er wollte, an seinen Händen würde nur sein eigenes Blut kleben.
Und er wollte nicht sterben.
Er wollte sie töten. Er wollte Gretchen töten. Deshalb musste er im Krankenhaus bleiben. Denn wenn er sich in die Welt zurück entließ, würde er sie jagen und ihr wehtun.
Rosenberg legte die Stirn in Falten. »Irgendwann werden Sie sich vergeben müssen.«
Sich selbst vergeben. Klar. Archie rieb sich mit einer Hand den Nacken und gestattete sich ein sarkastisches Lachen. »Sarah«, sagte er. »Ich habe mit einer Serienmörderin geschlafen.«
Rosenberg ließ sich nicht aus dem Takt bringen. »Für was hassen Sie sich mehr?«, fragte sie.
Sie wartete.
Aber die Schweigemethode funktionierte nicht.
Auf dem Flur war zu viel Geschrei.
Archie blickte in Richtung Tür.
»Die werden schon damit fertig«, sagte Rosenberg.
Ein Krachen hallte durch die Wände. Sie wussten beide, was es war. Ein Plastikstuhl, der gegen das bruchsichere Glas geflogen war.
Archie stand auf.
Noch mehr Schreie.
»Ruft den Sicherheitsdienst«, brüllte jemand.
Archie trat in den Flur hinaus. Rosenberg war hinter ihm, zwei Schwestern bogen um die Ecke. Archie handelte automatisch. Durch die Tür. Drei Personen hasteten an ihm vorbei aus dem Raum, als er eintrat. Fünf Personen befanden sich noch darin. Der Psychologe, der blutend hinter einem umgestürzten Schreibtisch kauerte. Zwei Frauen, die wie erstarrt an der Wand standen. Frank, der mit gespreizten Knien auf einem Plastikstuhl saß und verwirrt grinste. Und die Frau, die vornübergebeugt und schreiend in der Mitte des Raums stand und eine blutige Scherbe aus irgendeinem harten Material in der Hand hielt.
»Ach du Scheiße«, sagte Archie.
Die Frau hieß Courtenay Taggart. Sie war mit bandagierten Handgelenken von der Notaufnahme hier heraufverlegt worden, hatte es dann geschafft, ein Stück Kunststofffurnier von dem eingebauten Nachttisch in ihrem Zimmer abzuschälen, und versucht, die Sache zu Ende zu bringen. Seitdem war sie wegen Selbstmordgefährdung unter ständiger Beobachtung. Man hatte alles außer einer Matratze aus ihrem Zimmer entfernt. Die Tür war nie abgeschlossen. Rund um die Uhr saß jemand vom Personal in einem Sessel vor ihrer Tür. Archie hatte sie ein paarmal gesehen, wenn er auf dem Flur vorbeigegangen war. Sie lag immer wie ein Kind auf ihrem Bett.
Jetzt fuhr sie zu ihm herum und hielt sich die Scherbe an die weiche Haut ihres Halses. Offenbar hatte sie eine neue Furnierquelle gefunden.
»Was tust du da, Courtenay?«, fragte Archie.
Er schätzte sie auf etwa zwanzig. Sie hätte vielleicht jünger ausgesehen, wenn sie Zivilkleidung statt des grünen Krankenhauspyjamas getragen hätte. Ihr blond gefärbtes Haar war nach hinten gekämmt. Ihr Gesicht war rosa gerötet wie von einem Sonnenbrand. Sie hatte ein hübsches Gesicht, runde Wangen und eine von Natur aus makellose Haut.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann huschte ihr Blick an Archie vorbei zu einem Punkt hinter ihm. Er wandte den Kopf und sah einen der Krankenpfleger vorsichtig zur Tür hereinkommen. Es war ein junger Kerl, groß und kräftig, der aus lauter Neunziggradwinkeln bestand, mit kurz geschnittenem Haar und kantigem Gesicht. Archie hatte ihn schon im Flur gesehen, wenn er aufwischte oder ein Essenswägelchen zog.
»Leg das weg«, sagte der Pfleger.
Courtenay sah ihm in die Augen und drückte das Stück Kunststofffurnier in ihren Hals.
Eine der Frauen an der Wand stieß einen leisen Schrei aus.
»Hau ab«, schrie Courtenay den Pfleger an. Ihr hübsches Gesicht war verzerrt, und aus ihrem Mund kam ein Sprühregen aus Speichel und Rotz.
»Alles ist gut«, sagte der Pfleger. »Ich heiße George. Wie heißt du?«
Archie krümmte sich innerlich. Gib nicht zu, dass du ihren Namen nicht weißt. Der Gesichtsausdruck des Pflegers war ernst, er hielt die Hände mit der Handfläche nach oben, seine Haltung war neutral. Wahrscheinlich hatte er ein Seminar über Geiselsituationen besucht. Sich vorstellen. Eine Beziehung aufbauen. Zeit gewinnen.
»Courtenay«, versuchte Archie sie von dem Pfleger abzulenken, »was kann ich für dich tun?«
Sie nickte in Richtung des Pflegers. »Ich will ihn nicht hierhaben«, sagte sie. Ein Tropfen Blut lief an ihrem Hals hinab.
»Gehen Sie«, sagte Archie unter Aufbietung
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