Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
und verabschiedete sich dann von ihr. Sie wollte gerade die Burg betreten, als sie Ians Stimme hinter sich vernahm.
„Verlief der Abend zu deiner Zufriedenheit, Joanna?“
Es dauerte einen Moment, bis sie sich soweit wieder im Griff hatte, dass sie sich umwenden und antworten konnte: „Du traust dich tatsächlich, mir diese Frage zu stellen, nachdem du mich keine Sekunde beachtet hast?“
„Bist du wütend?“
Sie stutzte. Seinem Tonfall nach zu urteilen schien er genau das zu hoffen, wie merkwürdig. Aber sie verspürte keine Wut, denn um wütend zu sein, brauchte man Kraft. Und sie hatte langsam keine mehr. „Nein, ich bin nicht wütend. Ich bin enttäuscht.“ Sie sah ihn traurig an.
„Das ist dein gutes Recht.“ Er zuckte mit den Achseln. „Gute Nacht.“
Sprachlos blieb Joanna im Hof stehen. Die gehässige Stimme in ihrem Kopf meldete sich lauthals zurück. Und diesmal gelang es ihr nicht mehr, sie zu unterdrücken.
Joanna erwachte mit Kopfschmerzen. Der gestrige Abend war ein totaler Reinfall gewesen. Was sollte sie nur mit Ian machen? Sie vermisste ihn, aber keiner ihrer Pläne war aufgegangen, ganz im Gegenteil. Alles war nur schlimmer geworden. Sie wollte nicht aufgeben, aber allmählich gingen ihr die Ideen aus. An ihrer Theorie, dass er Schuldgefühle wegen der gemeinsamen Nacht hatte, zweifelte sie mittlerweile sehr. Aber was sonst konnte dahinter stecken? Sie hatte keine Ahnung. Und auch Laurentin, immerhin Ians bester Freund, wusste es nicht. Missmutig stand sie aus dem Bett auf. Sie verspürte keinen Appetit und ging gleich in die Apotheke, um sich mit Arbeit abzulenken.
Einige Zeit später klopfte es an der Tür und Jake trat ein. „Guten Morgen, Joanna, ich habe dich nicht beim Frühstück gesehen.“
„Ich hatte keinen Hunger“, erklärte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.
Jake erwiderte nichts, sondern kam stattdessen zu ihr an den Tisch. Er legte seine Hand auf ihre, sodass sie ihre Tätigkeit unterbrechen musste. „Was ist los?“, verlangte er zu wissen.
„Nichts.“ Sie sah zu Boden. „Mir geht es momentan nur nicht besonders gut.“
„Das merke ich. Und ich würde gerne erfahren, warum das so ist.“
Joanna zögerte. Sie war sich nicht sicher, wie ihr Bruder reagieren würde, wenn sie ihm gestand, wer schuld war an ihrem Zustand. Deshalb schwieg sie.
„Ich habe meine eigenen Vermutungen, Joanna.“
Ruckartig hob sie den Kopf. Wusste er es?
„Du brauchst eine Pause! Die Aufregungen der letzten Monate waren zu viel für dich. Ich habe einen Vorschlag.“ Er hielt einen Brief hoch.
Joanna nahm ihm das Schreiben aus der Hand. Es war von Tante Sophie. Sophie lud sie zum Dank für ihre Unterstützung im letzten Sommer zum Frühlingsfest in einer Woche nach Skye Forrest ein.
„Das ist eine schöne Idee, aber leider unmöglich.“ Sie ließ den Brief sinken. „Ich kann Greystone nicht einen Monat vor der Abschlussprüfung verlassen.“
„Oh doch, du kannst! Ich stelle eine Vertretung für dich ein – den Apotheker aus Delaria, der für dich eingesprungen ist, als Lady Tamara da war. Er kennt sich aus und muss nicht eingearbeitet werden.“ Sein Tonfall wurde ernst. „Du musst dich unbedingt erholen. Schau dich doch im Spiegel an: Unter deinen Augen sind seit Wochen dunkle Schatten.“ Sanft nahm er ihren Kopf in seine Hände. „Ich bestehe darauf, dass du zum Fest fährst und noch einige Zeit danach dort bleibst.“
Normalerweise hätte Joanna seiner Bitte niemals nachgegeben. Doch vor dem Hintergrund der letzten Ereignisse erschien ihr die Aussicht, die Burg für einige Wochen verlassen zu können, plötzlich verlockend. „Ich nehme Sophies Einladung an“, stimmte sie zu.
Jake nickte zufrieden und verließ die Apotheke, und ihre Gedanken kehrten zu Ian zurück. Eine Sache gab es noch, die sie unternehmen konnte, bevor sie zu ihrer Tante reiste. „Ja“, murmelte sie, „zeitlich könnte es nicht besser passen.“
Zwei Tage später stand Joanna sehr früh auf und ging hinunter zur großen Halle, um Ian dort abzupassen. Sie verbarg sich hinter einem Schrank, von wo aus sie die Eingangstür gut im Blick hatte, und wartete. Nervös betrachtete sie das Paket in ihrer Hand. Heute war der 17. Februar – Ians Geburtstag. Im Dezember hatte sie Charlotte bei ihrem Besuch danach gefragt. Seltsam, sie hatte so viel Zeit mit ihm verbracht, aber auf die Idee, ihn selbst nach seinem Geburtstag zu fragen, war sie nie gekommen. Charlotte hatte ihr den
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