Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
Tagelöhnerhaus zu erholen. Ich habe ihn als Einziger nach dem Kutschenunfall erlebt und bin überzeugt, dass einiges in ihm steckt. Sein Alter sehe ich nicht als Problem, wir hatten schon öfters ältere Studenten. Und was die Enterbung betrifft“, er machte eine beschwichtigende Handbewegung, „sein Vater wird sich bald beruhigt haben und sie rückgängig machen. Und sollte er entgegen meinen Erwartungen in der Akademie nicht zurechtkommen, finden wir etwas Passendes für ihn.“ Mit einem Lächeln wandte er sich an seine Schwester. „Joanna, schaust du in den nächsten Tagen nach Ian und sorgst dafür, dass er genug isst und sich ausruht?“
Joanna nickte und hoffte inständig, dass ihr Bruder mit seinen Einschätzungen richtig lag.
Ian sprang aus dem Bett, lief zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel. Verdammt, er hatte verschlafen! Während er eilig seine Kleider überstreifte, erinnerte er sich mit Beschämen an das Ende des gestrigen Abends. Wieso hatte er sich nicht besser im Griff gehabt? Das durfte nie wieder passieren! Es würde auch nie wieder passieren , denn heute war sein letzter Tag hier. Nicht dass er gehen wollte. Aber Jake und seiner Schwester musste doch mittlerweile klar geworden sein, dass die Entscheidung, ihn mitzunehmen, nicht ihre beste gewesen war.
Es klopfte laut an die Zimmertür. „Ian, bist du wach?“, rief Lady Joanna von draußen.
„Wach und angezogen – und unbewaffnet“,fügte er resigniert hinzu. „Bitte tretet ein, Mylady.“
Ihr Lachen erklang auf dem Flur. „Na, dann habe ich ja nichts zu befürchten.“ Sie öffnete die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. „Ich trete gerne ein, aber nur, wenn du aufhörst mich Mylady zu nennen.“
„Komm herein, Joanna“, wiederholte er ungläubig. Wenn die junge Frau ihn bat, sie ohne Titel anzusprechen, würden sie ihn kaum wegschicken – trotz seines unsäglichen Verhaltens am Vorabend.
Sie erriet seine Gedanken. „Mach dir keine Sorgen wegen gestern. Und steck auch dein Messer ein. Schließlich hat es uns bei dem Unfall gute Dienste geleistet.“ Lächelnd schritt sie auf ihn zu. „Ich wollte dich zum Frühstück abholen.“
„Es ist beinahe Mittag. Die Frühstückszeit ist lange vorbei. Ich kann warten, ich bin nicht hungrig.“
Joanna schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber dass du keinen Hunger hast, nehme ich dir nicht ab. Außerdem erwartet uns die Köchin. Sie will dich kennenlernen.“ Sie bemerkte seinen verwirrten Gesichtsausdruck. „Unsere Köchin Hannah ist die Frau des Kutschers, dem du vorgestern geholfen hast.“
Ian nickte. Er war erleichtert, ihr Wohlwollen nicht verloren zu haben, und erfreut über die Aussicht auf eine gemeinsame Mahlzeit mit ihr – ohne ihren Bruder und vor allem ohne Lord Lionsbridge.
Joanna führte Ian nicht in die große Halle, sondern in die Küche. Kaum waren sie eingetreten, kam eine kleine, pummelige Frau auf sie zu.
„Ah, Ihr seid Lord Darkwood. Vielen Dank, dass Ihr Miles gerettet habt. Das werde ich Euch nie vergessen.“ Begeistert betrachtete sie ihn, doch dann legte sich ihre Stirn in Falten. „Och, seid Ihr dürr.“ Sie klopfte ihm auf den Oberarm. „Aber es wird meine Aufgabe sein, das zu ändern.“ Mit diesen Worten stürmte sie an den Herd zurück und erschien kurz darauf mit einer Platte, auf der sich Unmengen von goldgelben Pfannkuchen stapelten. Mit der freien Hand schob sie Ian zu einem Tisch in der Ecke und stellte die Platte vor ihm ab. „Wenn Ihr mehr wollt, ruft mich. Für Euch mach‘ ich gerne eine Extraportion – jederzeit.“ Sie verschwand in ihrer Küche und begann lautstark mit den Töpfen zu hantieren.
Erstaunt saß Ian hinter seinem Pfannkuchenberg. „So großartig war meine Tat nicht. Jeder andere hätte ihm auch geholfen.“
„Richtig“, sagte Joanna. „Allerdings hätten die meisten zuerst uns – der Herrschaft – geholfen, und danach dem Kutscher.“
„Das wäre möglicherweise zu spät gewesen. Das Pferd war unberechenbar.“
„Viele hätten das in Kauf genommen. Und darin liegt der Wert deiner Tat für die Dienerschaft. Du hast nach Notwendigkeit entschieden, nicht nach Geburt. Doch jetzt“, sie deutete auf den Teller, „will ich sehen, wie du die Sache mit den Pfannkuchen löst. Ich helfe dir auch großzügig dabei.“ Sie riss ein Stück ab und steckte es sich in den Mund. Ian folgte ihrem Beispiel und bald war von den Pfannkuchen nichts mehr
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