Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
darauf saß Ian schweigsam neben den Geschwistern und aß – im Gegensatz zu Joanna – mit Begeisterung sein Essen. Dabei wurde er müde und es fiel ihm schwer ein Gähnen zu unterdrücken.
Joanna bemerkte es und erhob sich vom Tisch. „Ich bringe dich auf dein Zimmer. Dort kannst du dich heute Nachmittag ausruhen.“
Jake nickte zustimmend, doch Ian wollte widersprechen. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn er schon wieder schlief. Aber er konnte seine Augen nur noch mit Mühe aufhalten und so stand er auf und verließ gemeinsam mit Joanna die große Halle. Vor der Tür zu seinem Zimmer verabschiedete sie sich von ihm und er betrat den kleinen Raum. Rasch zog er Wams und Stiefel aus und legte sich auf das Bett. Kaum berührte sein Kopf das Kissen, war er bereits eingeschlafen.
Das nächste, was Ian wahrnahm, war Joannas Klopfen zum Abendessen. Er bat sie einen Moment zu warten, während er sein Gesicht über der Waschschüssel mit Wasser bespritzte, um die Schläfrigkeit zu vertreiben. Doch es nützte nichts. Wie benommen saß er am Tisch und verließ noch vor dem Ende der Mahlzeit die Tafel.
Ratlos sah Joanna ihren Bruder an. Von ihren guten Gefühlen am Morgen war nichts mehr übrig.
„Du musst Geduld mit ihm haben“, sagte Jake. Aber seine Stimme klang nicht mehr so sorglos wie am Abend zuvor.
Ein Zettel, der unter der Tür hindurch in sein Zimmer geschoben wurde, ließ Ian am nächsten Morgen sofort hellwach werden. Er stand auf und hob das Stück Papier auf. In großen Buchstaben stand sauber geschrieben:
K o m m i n d i e A p o t h e k e
J o a n n a
Wenig später stieg Ian hinauf in das Obergeschoss. Er lief an den Gästezimmern und am Krankenzimmer vorbei, die sich ebenfalls im Südflügel befanden, und klopfte an die Tür der Apotheke.
„Schön, dass du da bist“, begrüßte Joanna ihn und wies auf ein Tablett mit Essen, das auf dem Schreibtisch am Fenster stand. „Ich muss noch eine Bestellung zu Ende schreiben. Währenddessen kannst du frühstücken, und anschließend zeige ich dir das Gelände um die Burg.“
Kurze Zeit darauf verließen sie die Burg durch das Hauptportal und bogen nach rechts auf einen Weg ab. „Das Gebäude da hinten ist die Waffenhalle“, erklärte Joanna. „Man kann sie auch durch den Seiteneingang im Westflügel erreichen, den ich dir gestern gezeigt habe. Die Führung dort übernimmt aber am besten mein Bruder oder der Fechtmeister.“
Interessiert blickte Ian sie an und Joanna fuhr fort: „Die Kampfausbildung ist uns sehr wichtig. Das Kriegswesen ist das Einzige, worin der Adel dem Bürgertum noch überlegen ist – und das soll so bleiben.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Andererseits sind zwei unserer Absolventen seit letztem Jahr in Delaria als Fechtlehrer für bürgerliche Kinder angestellt.“ Joanna schüttelte den Kopf. „Das ist der wunde Punkt der Bürgerlichen: Sie verachten den Adel wegen seines Standesdünkels, trotzdem wünschen sie sich nichts sehnlicher, als in unsere glanzvolle Gesellschaft hineingelassen und anerkannt zu werden. Und dazu brauchen sie eine klassische Erziehung, ohne die Adelsschulen besuchen zu können.“
Ian nickte und Joanna setzte den Rundgang fort. „Gegenüber der Waffenhalle liegt das Kräuterhaus, dahinter Pferdestall und Reitplatz. Allerdings sind die meisten Pferde im Moment zur Erholung auf der Sommerweide.“ Neben ihr brummte Ian eine Erwiderung, die sie jedoch nicht verstand. Mittlerweile hatten sie den Rosengarten erreicht, der sich vor der großen Halle und dem Balkon des Festsaales erstreckte. Normalerweise schlug Joanna Besuchern an dieser Stelle vor, eine Pause einzulegen und auf einer Steinbank im Schatten einer Eiche Platz zu nehmen. Doch da sie sich vor einem peinlichen Schweigen fürchtete, setzten sie ihren Weg um die Burg fort, vorbei an der Burgkapelle, an Schuppen und Viehställen sowie den beiden Wohnhäusern für Lehrkräfte und Dienerschaft. Pünktlich zum Mittagessen erreichten sie wieder den Haupteingang. Und auch bei dieser Mahlzeit blieb Ian verschlossen und zog sich danach auf sein Zimmer zurück.
Angespannt betrat Joanna am Abend an Ians Seite die große Halle. Hoffentlich lief seine zweite Begegnung mit Galad besser! Schlechter konnte sie allerdings kaum werden. Galad, der sich bereits in der Halle befand, ging sogleich auf sie zu. Joanna, die noch bei Ian untergehakt war, spürte, wie dessen Körper sich versteifte.
„Ian“, sagte
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