Greywalker
zweimal tief Luft, um mich erst einmal zu beruhigen. Das schien etwas zu helfen. Wovor hatte ich Angst? Diesmal hatte es niemand auf mich abgesehen. Die Formen und Gestalten beachteten mich nicht, sondern gingen ihren Geschäften nach – was auch immer die sein mochten. Ich schüttelte erneut den Kopf und sah mich um. Da bemerkte ich eine dunkle, säulenhafte Form, die mich zu beobachten schien. Ich stand auf und ging in die entgegengesetzte Richtung. Die Gestalt drehte sich um und folgte mir. Ich rannte los in Richtung meines Büros.
Doch das historische Stadtviertel um den Pioneer Square wimmelte nur so von Schattengestalten. Ich drückte mich gegen eine Mauer. Schwindel überkam mich, als ich auf die Straße sah. Realer Verkehr vermischte sich mit dem aus der Vergangenheit. Gespenstische Pferde und Automobile fuhren achtlos über eine ehemalige Kreuzung, die einen halben Meter tiefer lag als der Bürgersteig der Gegenwart. Seltsame Spektralwesen tauchten auf den Gehwegen auf, um im nächsten Moment wieder zu verschwinden, während die Schattenäste eines gewaltigen Baumes, den es sicher schon seit Jahrhunderten nicht mehr gab, beinahe den Kopf der heutigen Statue von Häuptling Sealth berührten.
Mir war übel. Ich musste mich durch diesen Irrgarten aus festen und körperlosen Gestalten kämpfen, um mich in Sicherheit zu bringen – irgendwohin, wo sie mich nicht erreichen konnten. Mich durch den Betondschungel der realen Welt kämpfend, schloss ich mich einer Gruppe Touristen an, die zusammen mit ihrem Reiseleiter die Straße überquerte. Ich zuckte zusammen, als ein Pferd samt Reiter mitten durch die Gruppe trabte, ohne dass auch nur das Geringste passierte. Dann prallte ich beinahe gegen eine Straßenlaterne, die unerwartet im Weg stand. Indem ich mich verstärkt auf die Gegenstände der Gegenwart konzentrierte, verschwand die Schattenwelt ein wenig im Hintergrund. Ich hielt mich also an die Straßenlaternen und die Bänke an Bushaltestellen und kämpfte mich so durch die Geisterwelt auf meinen Rover zu. Eine gefühlte Ewigkeit später ließ ich mich hinter das Steuer fallen.
In meinem alten olivgrünen Transporter berührte mich zum Glück nichts. Ich saß ganz still da, bis ich wieder normal atmen und den Motor anlassen konnte. Sobald ich mich auf der Stadtautobahn befand, hatte die Gegenwart wieder die Oberhand gewonnen.
Das Bellevue-Hilton war modern und gesichtslos. Ich konzentrierte mich weiterhin auf das Hier und Jetzt, um auf keinen Fall erneut in diesen Strudel der Zeiten gerissen zu werden. An der Rezeption wies ein Schild auf den Lunch der Wirtschaftskammer hin, und kleine Gruppen von Geschäftsleuten bewegten sich in Richtung der Lobby-Türen.
Da hörte ich Schritte hinter mir und jemand rief meinen Namen.
Ich drehte mich um und entdeckte Colleen Shadley, die mit einem Aktenkoffer in der Hand auf mich zukam. Sogar auf ihren auffallend hohen Absätzen bewegte sie sich elegant und selbstsicher. Ohne die Schuhe wäre sie wohl kaum größer gewesen als ein Meter sechzig. Irgendwie hatte ich angenommen, dass wir gleich groß waren. In Wirklichkeit aber überragte ich sie selbst in meinen flachen Schuhen beinahe um einen halben Kopf.
»Hallo, Harper«, begrüßte sie mich und reichte mir die Hand. »Ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Ich habe die Papiere dabei, die Sie wollten.« Sie öffnete den Aktenkoffer, holte einen Umschlag heraus und reichte ihn mir. »Hatten Sie schon die Gelegenheit, sich den Fall näher anzusehen?«
»Da ich bisher nicht allzu viele Spuren habe, gestaltet sich das Ganze etwas schwierig. Aber mit diesen Aufnahmen hier sollte es besser gehen.« Ich reichte ihr nun meinerseits einen Umschlag mit den Bildern ihres Sohnes, die sie mir gegeben hatte. »Ich werde Sie benachrichtigen, sobald sich etwas getan hat.«
Sie warf mir zum Abschied ein kühles Lächeln zu, drehte sich um und ging. Ich tat das Gleiche, ehe jemand auf die Idee kam, sie zu fragen, wer ich war und was wir miteinander zu tun hatten.
Es blieben mir noch zwei Stunden bis zu meinem nächsten Treffen, die ich irgendwie totschlagen musste. Ich brauchte dringend einen Kaffee oder irgendetwas, das banal genug war, um mich eindeutig in der Gegenwart zu verankern, wie zum Beispiel Fast-Food oder schlechtes Fernsehen. Also versuchte ich es mit Shopping. Kaffee, ein Mittagessen und einige Kaufhäuser mitten im Viertel von Bellevue. Weit und breit waren keine Schattengestalten zu entdecken. Um Viertel nach drei
Weitere Kostenlose Bücher