Greywalker
Pioneer Square und irgendetwas stimmte nicht. Jetzt musste ich ihn nur noch finden, was sich allerdings schwierig gestalten konnte.
In den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte das Viertel um den historischen Pioneer Square einmal das gesamte Zentrum der Stadt umfasst. Wenn man es mit heute verglich, war das natürlich klein, aber es handelte sich im Grunde noch immer um eine Stadt in der Stadt, die sich vom neuen Baseball-Stadion bis zur Cherry Street und vom Hafen bis zu den Bahnhöfen entlang der Seventh Avenue erstreckte. Insgesamt handelte es sich um fünfzig mal fünfzig Blocks und auf jedem Quadratzentimeter gab es Ecken und Schlupfwinkel, Verstecke und Keller. Man hätte zweihundert Polizisten gebraucht, um die Gegend gründlich zu durchkämmen und so eine kleine Chance zu haben, dort jemand zu finden. Bloßes Glück und belastbare Schuhe würden da nicht ausreichen. Ich brauchte etwas Besonderes, um Cameron zu schnappen. Doch für den Moment weigerte sich mein Gehirn, zu arbeiten. Ich seufzte und stellte das Problem erst einmal hintenan, darauf hoffend, dass mein Unterbewusstsein schon eine Idee entwickeln würde.
Währenddessen wollte ich mich erst einmal auf Sergeyevs verschwundenes Erbstück konzentrieren. Ich rief also Ann Ingstrom zurück.
Sie hörte sich diesmal kräftiger und selbstbewusster an als bei unserem letzten Gespräch. »Ich glaube, ich habe etwas für Sie. Wir scheinen das schreckliche Ding erst wesentlich später verkauft zu haben, als ich ursprünglich angenommen hatte. Und zwar erst 1990.«
»Und wer war der Käufer?«
»Ein Mann namens Philip Stakis. Er ist mir allerdings kein Begriff. Aber ich kann Ihnen seine Telefonnummer geben. Haben Sie etwas zu schreiben?«
Sie nannte mir die Nummer, die ich notierte. »Vielen Dank, Mrs Ingstrom. Wäre es möglich, eine Kopie der Quittung zu bekommen? Damit ich nichts übersehe.«
»Selbstverständlich. Soll ich sie Ihnen zuschicken?«
»Ich würde lieber bei Ihnen vorbeikommen und sie gleich abholen, wenn Sie damit einverstanden sind.«
»Ja, gern. Möchten Sie schon heute kommen? Wann würde es Ihnen am besten passen?« Das hörte sich fast so an, als würde sie mich zum Tee einladen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war jetzt kurz vor eins und ich bezweifelte, dass mich Stanford-Davis vor vier kontaktieren würden. »Ich könnte in ungefähr einer Stunde bei Ihnen sein. Ist Ihnen das recht?«
»Um zwei also. Das passt mir gut.« Sie gab mir ihre Adresse und beschrieb mir den Weg. Nachdem ich aufgelegt hatte, nahm ich meine Tasche, schloss das Büro hinter mir ab und ging zum Wagen hinunter. So würde mir noch genug Zeit bleiben, um eine Kleinigkeit zu essen und einige Tassen Kaffee in mich hineinzuschütten.
Anscheinend wurde es dann doch etwas zu viel Kaffee. Obwohl mich das Koffein wieder hellwach werden ließ, musste ich auch dringend auf die Toilette. Endlich hielt ich vor dem Haus der Ingstroms in North Ballard.
Es handelte sich um ein schönes viktorianisches Gebäude, das sicher schon seit Generationen im Besitz der Familie war. Mrs Ingstrom öffnete mir die Tür und bat mich einzutreten. Ich fragte sie sofort nach der Toilette.
»Oh, die hier unten ist zurzeit leider nicht benutzbar. Gehen Sie doch einfach die Treppe hinauf, dann nach rechts und am Ende des Ganges befindet sich eine weitere Toilette. Stolpern Sie aber nicht über die Kartons und lassen Sie sich auch nicht von der Katze erschrecken. Sie schläft gern auf dem Heizkörper im Bad«, erklärte sie mir.
Ich stürzte die Treppe hinauf, den Flur entlang und schaffte es, über keine der vielen Schachteln zu stolpern. Im Badezimmer angekommen, begrüßte mich ein halb geöffnetes gelbes Auge.
»Entschuldigung«, sagte ich zu dem riesigen weißen Pelzberg. Er schnaufte und schloss das Auge, um weiter zu schlummern.
Das Badezimmer wirkte sauber und ohne persönliche Note. Nur ein Fläschchen Aspirin und ein Päckchen Pflaster in dem offenen, ansonsten leeren Medizinschränkchen waren zu sehen. Rostige Flecken verrieten, das er vor nicht allzu langer Zeit besser bestückt gewesen sein musste. Der Raum verriet nicht viel über die Leute, die ihn wahrscheinlich viele Jahre lang benutzt hatten.
Ich wollte gerade gehen, als sich die Katze zu strecken begann und dabei das Maul zum Gähnen so weit aufriss, dass sie sich den Kiefer auszurenken drohte. Ich sah ihr zu wie sie – ohne sichtbar schneller zu werden – mit aufgestelltem Schwanz an mir vorbei
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