Grim - Das Erbe des Lichts
Gegenwehr aufzugeben. Sie nannten sich die Kazhai, die Zornigen in der Sprache der Ersten Feen, und dieser Name passte zu ihnen, denn sie entluden ihre Wut in jeder ihnen zur Verfügung stehenden Macht auf die Menschen. Doch sie blieben wenige, denn Rhendralors Einfluss war auch in der Menschenwelt noch immer groß, und die Stärke der Feenkrieger — jener magisch und militärisch ausgebildeten Kämpfer seines Volkes, die sich seit jeher wie ihr König der Verbundenheit zwischen den Völkern verpflichtet hatten — hielt die Kazhai im Zaum. Doch dann ...« Theryon holte tief Atem, für einen Augenblick flackerte ein Schatten über sein Gesicht. »Dann wandte die Schneekönigin sich an Rhendralor. Nach dem Tod ihres Sohnes war ihr Schmerz übermächtig, und sie flehte ihn an, ihrem Wunsch nach Vergeltung zu entsprechen, gegen die Menschen, denen sie die Schuld an ihrem Verlust gab, in den Krieg zu ziehen und die einstige Heimat der Feen zurückzuerlangen. Rhendralor wies ihre Bitte zurück, woraufhin sie sich auf ewig von ihrem einstigen Herrscher abwandte und sich in der Welt der Menschen im Volk der Feen zur Königin ausrufen ließ. Ihr Schloss aus Eis auf Spitzbergen wurde zum Königssitz, und ihr gelang es, die zuvor unorganisierten Kazhai zu einer gefährlichen Armee zu formen, mit der sie gegen die Menschen in den Krieg ziehen wollte. Sie glaubte, mit den ersten Siegen über das ihr verhasste Volk zahlreiche von Rhendralors Getreuen auf ihre Seite zu ziehen, und es wäre ihr vermutlich sogar gelungen — wenn ich nicht von ihren Plänen erfahren und sie mitsamt ihren Anhängern in die Feenwelt getrieben hätte.« Er hielt inne, eine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen, während er nachdachte. »Ich hatte gehofft, dass sich ihr Zorn legen würde«, murmelte er gedankenvoll. »Ich glaubte, dass Rhendralors Güte und Weisheit sie auf den richtigen Weg zurückführen würden. Doch ich habe mich geirrt, und mehr noch: Ich habe die Armee gesehen, die auf der anderen Seite der Grenze darauf wartet, in die Menschenwelt zu stürmen — wenn die Grenze erst einmal gefallen ist, werden wir keine Möglichkeit mehr haben, sie aufzuhalten. Denn mein Volk ist mächtig, mächtiger als die meisten anderen Völker dieser Welt, und noch dazu haben sie Schattenalben auf ihrer Seite — teuflische, bösartige Kreaturen, hochmagisch und kaum zu bezwingen. Aber niemals hätte die Schneekönigin zur damaligen Zeit über eine solche Streitmacht verfügt. Und niemals hätte Rhendralor ihr gestattet, unter seiner Herrschaft einen solchen Plan in die Tat umzusetzen, wie sie ihn nun verfolgt.«
Ohne ein weiteres Wort schlug er die Decke zurück. Seine Bewegungen waren so geschmeidig und fließend, als hätte er gerade einen ausgiebigen Urlaub genossen und nicht mit dem Tod gekämpft. Er hüllte sich in einen schweren Samtmantel, der über einem Sessel gelegen hatte, und schaute angespannt von einem zum anderen. »Etwas muss in der Feenwelt geschehen sein«, sagte er kaum hörbar. »Etwas, das diese Schrecknisse erst möglich gemacht hat. Und wir werden herausfinden, was es war.«
Damit griff er in die Tasche seines Mantels, zog ein Stück Kreide heraus und zeichnete ein verschlungenes Zeichen auf den Boden. Lautlos ließ er sich auf die Knie nieder, schnippte zweimal mit den Fingern und ließ rasselnd undurchsichtige schwarze Vorhänge vor den Fenstern herunterfallen. Remis zuckte von dem flatternden Geräusch zusammen, und Grim hörte gleich darauf das Zischen eines sich entfachenden Feuers im Kamin. Die Flammen waren blau und erhellten den nun sehr dunklen Raum gerade bis zum Kreidezeichen.
Schweigend ließ Grim sich neben Theryon nieder, Mia und Remis hockten sich neben ihn. Kaum hatten sich ihre Blicke auf das Zeichen gesenkt, glomm es in weißer Glut auf. Theryon schaute eindringlich von einem zum anderen. »Durch den Einriss der Grenze habe ich die Möglichkeit, euch und mich selbst in die Feenwelt zu bringen. Allerdings ist das nicht ganz ungefährlich.«
Remis schaute ihn an, als hielte er das letzte Wort für die größte Untertreibung, die er sich vorstellen konnte.
»Wir müssen unsere Körper hier zurücklassen«, fuhr Theryon fort. »Ich werde euch mit meinem Zauber in die Feenwelt führen, ihr werdet kaum merken, dass ihr eure leibliche Hülle hinter euch gelassen habt. Dennoch besteht ein Risiko, denn während unser Bewusstsein unsere Körper verlässt, fallen diese in tiefe Ohnmacht. Kehren wir nicht rechtzeitig
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