Grim - Das Erbe des Lichts
gewaltige Berge, die mit fruchtbarer Vegetation bedeckt waren. Grim sah den violetten Himmel, über den bunte Vögel dahinzogen, und hörte das wilde Rauschen eines Meeres in der Ferne. Dann bemerkte er die Gestalten und den prachtvollen Thron, der an der Kopfseite des Saales stand. Geschöpfe in langen Gewändern aus den edelsten Materialien umstanden den Herrschersitz. Grim sah ihre durchscheinende Haut und die reglosen Augen und wusste, dass sie in der Welt der Feen waren.
Lautlos kamen seine Füße auf dem Boden auf, er spürte den warmen Marmor und wie Theryon die Hand aus seiner Klaue zog, doch sein Blick fiel auf das Wesen, das in einiger Entfernung auf dem Thron saß — und augenblicklich nahm Grim nichts anderes mehr wahr. Es war eine männliche Fee mit farblosem Haar, das nebelgleich auf den kostbaren Mantel hinabfiel, und einem mannsgroßen, schmalen Stab in der rechten Hand, an dessen Ende ein funkelnder Stern prangte. Auf den ersten Blick wirkte der Fremde wie ein Mensch, aber gleich darauf spürte Grim, dass es nicht der Saal war, der aus sich heraus strahlte — es war dieser König, dieser Herrscher der Feen. Tief in ihm schien ein leuchtender See zu liegen, ein Wunder, das sich ohne sein Zutun seinen Weg durch seine beinahe transparente Haut brach und sie schimmern ließ wie Tau im Licht der Sonne.
Grim folgte Theryon, der langsam auf den Thron zuging, ohne den Blick von dem Herrscher abzuwenden, und als er dicht vor ihm stand, konnte er sein Gesicht erkennen. Es war das Antlitz eines Kindes und gleichzeitig eines sehr alten Mannes, ein Maskengesicht, das nicht wusste, was eine Maske überhaupt war, ein farbiger Schleier über einem Abgrund aus Schwärze und ein Schatten auf einem kristallenen Meer. Grim wusste, dass er aufgehört hatte zu atmen, und für einen Moment fragte er sich, ob es nicht vollkommen irrsinnig war, dass er sein Bewusstsein, das losgelöst von seinem Körper in der Weltgeschichte herumspazierte, zum Atmen zwang. Dann richtete sich der Blick des Feenkönigs auf ihn und löschte jeden Gedanken in ihm aus.
Blau.
Das war alles, was Grim durch den Kopf ging, aber nicht als Wort oder fassbarer Begriff, sondern als Funken einer Idee, als Ahnung von Meer und All. Auch diese Augen spiegelten nichts, denn es waren die Augen einer Fee, und doch — als Grim in dieses Blau schaute, meinte er für einen Moment, sich selbst anzusehen. Er sah sich als jungen Gargoyle, wie er über die brennende Erde des Ätnas gestolpert war, sah sich im Flug während seiner Ausbildung zum Schattenflügler, sah sich neben seiner alten Mentorin Moira in den Gassen von Rom oder während seiner ersten Nacht in Paris, frierend und heimatlos, und er sah Jakob und Mia und Seraphin — und sein eigenes Gesicht, wie es jetzt war. Doch er erblickte nicht das Antlitz eines Gargoyles, eines Menschen oder eines Hybriden. Er schaute in das staunende, verletzliche Gesicht eines Kindes, das nichts wusste von Stein oder Fleisch, sondern nur eines war: ein Kind, das auf nichts weiter lauschte als auf den eigenen Herzschlag. Dann spürte er das Lächeln, das dieses Bild durchdrang wie ein sanfter Wärmeschauer, und langsam, kaum merklich, kehrte er vor den Thron zurück und schaute zu dem Feenkönig auf.
»Rhendralor«, sagte Theryon ehrerbietig und legte die rechte Faust auf die linke Brust. »König der Freien Feen, Herrscher über das Tal Nafrad'ur und aller Kreaturen, die den Schatten die Stirn bieten und keinen von ihnen fürchten.«
Grim folgte Theryons Beispiel und sah, wie auch Mia und Remis dem König ihren Respekt erwiesen. Rhendralor betrachtete sie regungslos. Er saß da wie eine Figur aus kostbarem Stein, und Grim bemerkte mit unerklärlichem Befremden, dass der König nicht atmete.
»Theryon«, sagte Rhendralor, und Grim spürte, wie die dunkle, meertiefe Stimme des Feenkönigs ihm das Haar zurückstrich.
Welches Haar,
fragte sich eine Stimme tief in ihm.
Das Haar deines Körpers, der hilflos in der Menschenwelt liegt? Oder das Haar, das dein Bewusstsein sich erträumt? Dein Haar ist aus Stein — hast du das vergessen?
»Ich habe euch erwartet«, fuhr der König fort. »Dein Ruf eilte die Hänge Ir'dhalars hinauf, er zielte nach den Sternen an meinem Sonnenhimmel und erstürmte die Festungen des Schnees tief in den Wäldern der Schleierdryaden.«
Theryon ließ die Faust von seiner Brust sinken. Grim sah, dass er schnell atmete. Noch nie hatte er den Feenkrieger in einem Zustand solcher Anspannung
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