Grim - Das Erbe des Lichts
wissen nicht mehr, was sie sind. Vielleicht brauchen sie eine Fee, die es ihnen zeigt.
Und dann dieses Wort, dieses unscheinbare, winzige Wort, das sie innerlich zum Zittern brachte, weil es dem grausamen Wicht namens Zweifel in ihrer Brust die Krone aufsetzte.
Hoffnung.
Wie flüchtig dieses Wort aus Rhendralors Mund geklungen hatte, und wie spöttisch sie selbst oft darüber nachdachte, heimlich und nur für sich, um nicht die Kraft zu verlieren weiterzumachen. Und doch — selbst Theryon, der Feenkrieger, kannte den Zweifel an den Menschen. Sie hatte seinen Zorn gesehen und seine Gedanken gehört, in denen er nicht anders gekonnt hatte, als dem König der Feen recht zu geben. Und dennoch kämpfte er für die Menschen, während sie selbst sich von den Worten eines Feenherrschers verunsichern ließ. Entschlossen ballte sie die Fäuste. Jakob hätte nicht gezweifelt.
Theryon strich mit der Hand über die verkohlten Buchrücken, doch es lag keine Wehmut in seinem Blick. Stattdessen lächelte er, hob die Hände und schlug sie mit lautem Knall zusammen. Sofort fielen sämtliche Bücher in sich zusammen. Theryon murmelte einen Zauber, heiter und leicht flog er durch die Asche, als wäre er ein Schmetterling auf der Suche nach einer Blüte. Noch einmal schlug Theryon in die Hände — und im nächsten Moment erhob sich die Asche in die Luft. In einem gewaltigen Sturm aus verkohltem Papier und Pergament formten sich die Bücher neu, die Asche färbte sich von Schwarz zu Gold, und bald standen die Bücher in ihren Regalen, als wären sie nie zerstört worden.
»Manche Dinge«, sagte Theryon mit geheimnisvollem Lächeln, als er Mias erstauntes Gesicht sah, »können nicht vernichtet werden. Und Gedanken zählen dazu.«
Mia musste lächeln.
Die Gedanken sind die einzige Freiheit des Menschen.
Das hatte Grim ihr einmal gesagt, und jetzt, da er sie mit undurchdringlichem Blick ansah und plötzlich lächelte, wusste sie, dass auch er gerade daran gedacht hatte.
Theryon schritt die Regale entlang, die Finger seiner linken Hand tanzten über die Buchrücken, bis er vor einem dicken, ein wenig abgegriffenen Werk mit rot glänzendem Titel stehen blieb. Er zog es aus dem Regal, legte es auf den runden Tisch in der Ecke des Zimmers und forderte sie auf, neben ihm Platz zu nehmen.
»Der Krieger des Lichts ist eine Legende«, sagte er, während seine Finger vorsichtig über das Buch strichen. »Sie liegt tief begraben in den Annalen meines Volkes, und ihr werdet sie nur verstehen, wenn ihr die Zusammenhänge kennt, in denen sie sich zugetragen hat.« Er sah sie der Reihe nach an. »Was wisst ihr über die Anfänge meines Volkes? Was wisst ihr über die Geschichte der Feen?«
Mia spürte, wie Theryons Blick an ihr hängen blieb. Seit vielen Monaten bildete er sie in Kampfkunst und Magie aus, doch seine Lektionen hatten sich auch auf Bereiche der anderweltlichen Geschichte ausgedehnt. Es war aufregend, jahrtausendealte magische Artefakte aus der Anderwelt in den Händen zu halten — doch noch viel spannender war es, die Hintergründe dieser Gegenstände zu erfahren. Daher hatte sie jede Gelegenheit genutzt, um mehr über die Vergangenheit der verschiedenen Völker der Anderwelt herauszufinden, und auch Theryons Volk war ihrer Neugier nicht entkommen.
»Die Feen haben diese Welt vor langer Zeit verlassen«, begann sie. »Aber es ist nicht leicht, etwas über dieses Volk zu erfahren.«
Grim lächelte ein wenig. »Die Anderwelt schützt ihre Geheimnisse — ganz besonders vor wissbegierigen Hartiden.«
»Die Erfahrung habe ich in letzter Zeit ziemlich oft gemacht«, erwiderte Mia mit einem Seufzen. »Aber die Anderwesen scheinen ohnehin nicht besonders viel über die Feen zu wissen, und da ich einen Lehrer habe, der zwar einerseits über großes Wissen verfügt, dem aber andererseits vor allem daran gelegen ist, die — ich zitiere
— Fähigkeit des Nachforschens und eigenständigen Urteilens ausgehend vom eigenen Weltbild
seiner Schülerin auszubilden, habe ich auf der Suche nach dem Hintergrund der Feen bei den Legenden und Mythen der Menschen angefangen. Ironischerweise habe ich so einiges über das Erbe der Feen herausgefunden.«
Remis hob nachdenklich die Brauen. »Obwohl doch die Menschen der Grund dafür waren, aus dem die Feen diese Welt verließen.«
Mia nickte. »Die Menschen mögen sich durch den Zauber des Vergessens nicht mehr bewusst an die Feen erinnern — aber in ihren Sagen und Märchen, die jahrhundertelang
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