Grim - Das Erbe des Lichts
geschah oder ein Zauber des Feenkriegers war — hörte sie das Rauschen von Wellen. Wind fuhr ihr ins Gesicht, die Seiten des Buches schienen größer zu werden, bis sie nichts mehr wahrnahm als die düsteren Wolken, aus denen feiner Nieselregen fiel. Plötzlich verlor sie den Halt, der Tisch war verschwunden. Stattdessen stürzte sie in die Wolken. Kalter Wind schlug ihr ins Gesicht, und sie spürte, dass sie fiel, doch sie fürchtete sich nicht. Das Buch hatte sie eingesogen, wie Feenbücher es häufig taten. Es würde nicht erlauben, dass ihr etwas zustieß.
Sie hob die Hand vor die Augen und erkannte, dass ihr Körper kaum mehr war als flirrender Staub. Jetzt sah sie auch Grim und Remis, die ganz in ihrer Nähe durch den Nebel fielen, und als sie lachte, klang ihre Stimme kaum hörbar durch das Donnern der Wolken. Sie durchbrach die Wolkendecke, ihr Flug verlangsamte sich und ließ sie abwärtsschweben. Unter ihr toste ein Meer in schwarzen und grünen Farben, Schaum brandete auf den Wellen und Blitze zuckten am Horizont auf. Doch all das sah Mia wie durch einen Schleier. Ihr Blick hing an der Insel, die wie ein grüner Edelstein in dem wütenden Meer lag. Gebirge umfassten das Eiland an seinen Küsten, und sie sah fruchtbare Ebenen in seinem Inneren wie Wellen aus kostbarer grüner Seide.
»Die Smaragdinsel«, flüsterte Remis neben ihr. Mia sah ihn an, seine Augen flirrten in dunklem Licht. »So hat mein Volk dieses Land schon vor langer Zeit genannt. Und passt der Name nicht gut zu ihm?«
Mia nickte, während sie erneut durch eine dicke Wolkenschicht sanken, die in weißen Nebel überging. Sie spürte nasses Gras an ihren Füßen, und kaum dass der Regen ihr Gesicht berührte, lächelte sie. Noch nie hatte Regen sich so angefühlt — es war, als liefen winzige Irrlichter mit nackten Füßen über ihre Haut.
»Irland«, sagte sie und sog die Luft ein.
Sie war noch nie in diesem Land gewesen, aber sie hatte nicht nur selbst schon viel darüber gelesen, sondern auch von Theryon einiges darüber gehört, vor allem über die vielfältige Anderwelt, die sich auf der Grünen Insel geschützt vor den Entfaltungen der Festlandmenschen entwickelt hatte. Sie hob die Hand, Nebelfäden blieben an ihren Fingern hängen wie zarte Schleier. In einiger Entfernung schienen Gestalten durch den Nebel zu schreiten. Mia kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, aber die Konturen blieben verschwommen, sodass sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob die Wesen, die sie zu sehen meinte, wirklich da waren oder nur ihrer Einbildung entsprangen.
Sie dachte daran, was Theryon ihr von den Menschen dieser Insel erzählt hatte. Am Rand der damals bekannten Welt des Abendlandes gelegen, blieb die Grüne Insel nicht nur von der Herrschaft der Römer verschont, sondern auch von den Wirren der Völkerwanderung. So konnte sich die keltische Kultur ungestört entfalten und wesentlich länger halten als auf dem Festland — und mit ihr auch eine besondere Beziehung zu den Anderwesen. Viele Menschen hatten sich noch immer den Glauben an Kobolde, Feen und Irrlichter bewahrt, und mehr als das: Sie hielten ihn lebendig, indem sie die Geschichten über die Anderwesen als hohes Gut schätzten wie zu Zeiten der Geschichtenerzähler. Mia spürte den Nebel wie einen Zauber auf ihrem Gesicht. In diesem Augenblick hätte es sie nicht gewundert, eine Horde Zentauren durch den Dunst brechen zu sehen oder die Flöte eines Fauns zu vernehmen, der möglicherweise in den nahe gelegenen Hügeln wohnte.
Mia hörte Grim leise einatmen. Seine Konturen zeichneten sich mit dunklem Flirren vor dem Nebel ab, während Remis als grüner Schemen auf seiner Schulter saß. Sie sah, dass beide lächelten, und fühlte es selbst: Irgendetwas lag in der Luft, ein kaum spürbarer Duft, der kühl und geheimnisvoll in ihre Lunge strömte und sie wissen ließ, dass sie noch nie an einem solchen Ort gewesen war: Sie befand sich auf einer Insel der Magie.
»Es entspricht der Wahrheit«, klang Theryons Stimme durch den Nebel und schien mit den geisterhaften Erscheinungen zu tanzen, die sich noch immer in einiger Entfernung bewegten, »dass die Milesier auf die Insel gelangten und die Herrschaft forderten, und es kam zu einer Reihe blutiger Schlachten — auf der einen Seite standen die Menschen, auf der anderen die Alben unter der Vorherrschaft der Feen. Waren es auf menschlicher Seite der Druide Amergin und sein Herr Mil, die ihren Gegnern zusetzten, war es auf der
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