Grim - Das Erbe des Lichts
aus geschliffenem schwarzen Marmor wieder. Gezackte Säulen trugen die Decke, ein breiter Kamin prangte wie ein aufgerissenes Löwenmaul an einer Wand. Grim bemerkte filigrane Meißelarbeiten und farbige Mosaike mit Szenen aus der Mythologie der Zwerge, die den Boden bedeckten, doch sein Hauptaugenmerk lag auf etwas, das er an diesem Ort niemals erwartet hätte: Mitten in der Höhle stand, aufgebockt auf drei massiven Pfosten, ein Flugschiff aus Papier.
Es war mindestens so groß wie eine Lokomotive und verfügte neben drei Segeln und Masten auch über mehrere Ruder zu beiden Seiten. Schräg über dem Steuerrad schwebte ein leuchtend roter Ballon, und daran baumelte, mit einem schwarzen Gürtel befestigt, ein Zwerg. Er trug einen Maleranzug, der ebenfalls wirkte wie aus Papier, und fügte mit einer Pinzette einige winzige Papierfetzen in ein Loch am Steuerrad. Seine Haare standen in flammendem Rot von seinem Kopf ab, und sein langer Bart war mit einem Stift zu einem wirren Knäuel zusammengedreht worden. Auf seiner Nase saß eine Brille mit runden Gläsern, die so dick waren, dass die braunen Augen des Zwergs dahinter aussahen wie Murmeln unter einem Fischaugenobjektiv.
»Einen Augenblick«, sagte der Zwerg leise, ohne den Blick zu heben, und klebte mit konzentrierter Miene den letzten Schnipsel auf das Loch. Zufrieden ließ er die Pinzette in eine Tasche an seinem Anzug gleiten und wandte sich seinen Besuchern erstmals zu.
Unverhohlenes Staunen ging durch seinen Blick, und für einen Moment glaubte Grim, seine Augen würden durch die Gläser seiner Brille treten, so weit riss der Zwerg sie auf. Er vermutete, dass der Herrscher über das Zwergenreich Irlands eine ähnlich kühle Beziehung zu den Gargoyles unterhielt wie der Rest seines Volkes, und als der Zwerg eine Halterung an seinem Ballon betätigte und langsam auf sie zuschwebte, fühlte er sich unter dessen aufmerksamem Blick durch die dicken Brillengläser wie unter einem Mikroskop. Er bemerkte, wie Theryon die Faust auf die Brust legte und den Kopf zur obligatorischen Verbeugung neigte, und tat es ihm schnell gleich.
Der Baron löste die Schnalle seines Gürtels und landete direkt vor ihnen. Der junge Zwerg in der Uniform flüsterte ihm etwas ins Ohr und entfernte sich rasch. Gleich darauf lachte der Baron, es war ein helles, warmes Lachen, das Grim aufsehen ließ. »So was«, sagte Folpur, und ein verschmitztes Lächeln flog über sein Gesicht. »Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Ein Mensch, ein Feenkrieger, ein Kobold — und ein Gargoyle in meinem Reich.« Er verzog den Mund hinter seinem Bart zu einem Grinsen, während er von einem zum anderen schaute. Dann blieb sein Blick an Grim hängen, ein Zucken lief über sein linkes Auge. »Nein«, murmelte Folpur und kam einen Schritt auf Grim zu. Scharf sog er die Luft ein und lachte noch einmal. »Oh nein. Kein Steinkopf, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag.« Er zog den Kopf zurück und tippte sich leicht mit dem Zeigefinger gegen die Nase. »Mögen die Elfen die Mächte der Natur beherrschen und die Feen und Dämonen die Welt der Magie — kein anderer Alb übertrifft einen Zwerg, wenn es um eine gute Nase geht, mein hybrider Freund!«
Grim bemühte sich, respektvoll zu nicken und sich bewusst zu machen, dass dieser Zwerg über weitaus größere Mächte verfügte als seinen Geruchssinn. Er hatte von den Kräften gehört, die ein ausgewachsener Zwerg im Kampf entfalten konnte, von den Knochen in seinem Körper, die angeblich niemand zu brechen vermochte, und von den dunklen Zaubern, die zwergische Alchemisten tief im Inneren der Erde bereiteten und die sich durchaus mit der schwärzesten Dämonenmagie messen konnten. Aber das Lächeln Folpurs war so herzlich, dass es Grim schwerfiel, das wahre Ausmaß solch dunkler Kräfte hinter den freundlichen Augen zu erahnen.
»Verzeiht uns, dass wir Euch ohne Ankündigung aufsuchen«, ergriff Theryon das Wort. »Es lag nicht in unserer Absicht, Euch zu stören.«
Folpur hob fragend die Brauen. »Stören? Ach so, deswegen meint ihr?« Er deutete auf sein Flugschiff und lachte. »Nein, Unsinn, das ist eben eine Spielerei von mir, eine Grille, wie die Menschen in früheren Zeiten sagten, nicht wahr?« Er sah Mia freundlich an. »Eines Tages wachte ich auf und dachte mir: Warum sollen Zwerge eigentlich nur im Inneren der Erde beheimatet sein? Was ist mit der Luft, mit den Wolken, was mit den Stürmen, die in Herbstnächten über die Welt ziehen?
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