Grim - Das Erbe des Lichts
geglaubt. Doch in diesem Moment kam es ihm so vor, als sähe er sie zum ersten Mal — als fiele ihm zum ersten Mal der Schatten auf, der hinter ihrer Haut lauerte und nur darauf wartete, jedes Licht in ihr zu verschlingen. Kälte ging von ihr aus wie von Gargoyles im Todesschlaf, und ein Schauer flog über Grims Rücken, als es ihm bewusst wurde. Auch Theryon betrachtete Mia eindringlich, und Remis schwirrte beunruhigt in die Luft. Folpur hingegen saß regungslos, und als Grim ihn ansah, schien es ihm, als würde weißer Putz vom Gesicht des Barons abbröckeln. Dahinter lag das Antlitz eines Greises, der das Altern verlernt hatte, die Augen eines uralten, mächtigen Zwergs, der die Kriege der Ältesten erlebt hatte und die Sehnsucht nach einem Ende des Blutvergießens kannte. Dieser Herrscher, das wusste Grim plötzlich, war trotz seiner steinharten Knochen mehr als nur einmal gebrochen worden, und er hielt den Schmerz fest, als wäre dieser das Leben selbst. Vielleicht, schoss es Grim durch den Kopf, war der Schmerz in Folpurs dunkelsten Stunden alles, was er besaß, und vielleicht wollte er sich gerade deswegen in die Luft erheben — um die Schwere seines Inneren zu verlieren. Da neigte der Baron den Kopf, und der Zauber war vorbei.
»Verzeih mir«, sagte er leise. »Die Menschen sind meinem Volk fremd geworden.«
»Ich bin eine Hartidin«, erwiderte Mia. »Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Zeit des Friedens, die einmal zwischen unseren Völkern bestand, eines Tages wiederkehrt. Und der Krieger des Lichts ...«
Folpur lächelte traurig. »Kirgan, der Krieger des Lichts«, raunte er. »Ja, er war ein strahlender und verzweifelter Held, wie es sich für einen Menschen gehört. Einst blühte sein Orden auf, viele Nachfahren führten sein Erbe in seinem Sinne weiter. Doch wisst ihr nicht, was dann geschah?« Er hielt inne und sah Grim an, als würde er langsam die Hand ausstrecken und ein tödliches Gift in dessen Körper injizieren. »Die Zeiten änderten sich. Kennt ihr nicht diesen Namen: Pedro von Barkabant — den Blutkönig der Menschen?«
Grim hustete, auf einmal war seine Kehle wie zugeschnürt. Eine Gestalt tauchte vor seinem inneren Auge auf, eine schwarz gekleidete, menschliche Gestalt am Rande des Höllenflusses Gjöll, die Hand halb zum Gruß erhoben, die Augen mit Abschied gefüllt wie mit Tränen. Ein brennender Schmerz durchzog Grims Brust, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er hatte Pedro von Barkabant als seinen Vater kennengelernt — und so dachte er an ihn, auch heute noch, ein Jahr nach den Erlebnissen im Riss der Vrataten, ein Jahr nach ihrem Abschied in der Hölle. Er bemerkte, dass Folpur ihn ansah, aufmerksam und mit einem wachsamen Blick, der alles bedeuten konnte.
»Zur Zeit dieses Königs«, fuhr der Baron fort, ohne Grim aus den Augen zu lassen, »jener Zeit also, da viele Menschen mit der Anderwelt auf Kriegsfuß standen, gierte auch der König der Menschen in Irland nach Macht. Er begann einen Krieg gegen mein Volk, der Orden der Sternenritter geriet zwischen die Fronten und auch innerhalb des Ordens soll es zu Zerwürfnissen zwischen Zwergen und Menschen gekommen sein. Kurz vor dem Zauber des Vergessens kam es darüber hinaus zu einer schrecklichen Schlacht. Einigen Anhängern Morrígans gelang es mit einer List, dem damaligen Krieger des Lichts sein Schwert und einen Blutstropfen abzunehmen. Mit ihnen befreiten sie Morrígan aus ihrer Verbannung, und obwohl der Orden sich ihr und ihren Schergen entgegenstellte, hatten die tapferen Krieger ohne das Schwert Kirgans keine Chance. Morrígan tötete sie alle — bis es ihrem Anführer mithilfe seines letzten überlebenden Ritters gelang, sein Schwert zurückzuerlangen und Morrígan erneut zu verbannen. Doch der Krieger des Lichts fand dabei den Tod.«
»Was soll das heißen?«, fragte Grim grollend und spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. »Hatte er Nachfahren?«
Folpur neigte leicht den Kopf. Dann nickte er.
»Was geschah mit ihnen?« Theryons Stimme klang ruhig wie immer, doch Grim sah die Anspannung in seinen Zügen wie ein Netz aus glühenden Fäden.
»Mein Volk brachte sie in die Welt der Menschen«, erwiderte der Baron. »Dort verlor sich ihre Spur. Denn obwohl die Gabe des Kriegers des Lichts weitergegeben wurde, trat nie wieder einer von ihnen in Erscheinung. Das Schwert Kirgans wurde von meinem Volk an einem geheimen Ort verwahrt, für niemanden erreichbar außer für den Krieger des Lichts —
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