Grim - Das Erbe des Lichts
der Junge fliehen musste, er wusste nicht warum, nur dass es so war, aber der Junge blieb stehen und schaute ihn an, unverwandt wie ein Wunder aus einem Märchen. Dann lächelte der Junge, streckte wie selbstverständlich die Hand aus, berührte eine der brennenden Fesseln um Grims Brust und zerriss sie, als wäre sie nichts als ein Faden aus Nebel. Grim konnte wieder Atem holen, und er kam auf die Beine, als wäre alle Kraft in seinen Körper zurückgekehrt.
Das Meer war verschwunden, stattdessen glitten Feen über ihn hinweg. Carven stand neben ihm, Grim spürte die Reste des Heilungszaubers, der von den Fingern des Jungen ausströmte, wie Funken aus Feuer auf seiner Haut. Carven zitterte und war starr vor Angst, aber er floh nicht, er blieb, auch jetzt, da Morrígan durch die Menge ihrer Anhänger stob wie ein brennender Pfeil, der Schwaden aus Nebel zerriss.
Grim packte Carven an der Schulter und schob ihn hinter sich. Er konnte die Hitze des sicheren Feuerkreises fast schon fühlen, der Junge würde es schaffen, wenn er Morrígan aufhielt — und das würde er. Entschlossen ballte er die Klauen, die höhere Magie setzte sie in Flammen. Dann stieß er die Faust vor — doch gerade, als er seinen Zauber entließ, wurde er von einem heftigen Schlag zurückgeschleudert. Er sah noch, wie sein Zauber sich Morrígan entgegenwarf und sie behinderte, und spürte gleich darauf, wie er am Kragen gepackt wurde. Mit beeindruckender Kraft und in wahnsinniger Geschwindigkeit schleifte Hortensius ihn über die Ebene zum sicheren Feuer. Gemeinsam mit Carven durchbrachen sie die Flammen, dicht gefolgt von Morrígan, die funkensprühend gegen den Schutz prallte und ihr schönes Gesicht für einen Augenblick zur Schreckensfratze verzerrte.
Schwer atmend sank Grim neben das Feuer. Remis sauste auf seinen Arm, Mia ließ sich neben ihm fallen und griff besorgt nach seiner Klaue. Theryon legte eine Hand auf seine Hüfte, mit geschlossenen Augen murmelte er einen Heilungszauber, der das Gift der Fee aus Grims Körper vertrieb. Hortensius zog Carven an sich, kurz nur und flüchtig, aber so heftig, dass der Junge husten musste.
Da zerriss ein Schrei die Luft, markerschütternd und schrill. Grim richtete sich auf und sah, wie die Feen mit Morrígan an ihrer Spitze über den Himmel tanzten, ehe sie in den Strahlen der Morgensonne verschwanden. Rasch nahm er Hybridgestalt an und erhob sich.
»Die Nacht ist vorbei«, sagte er und ließ es zu, dass Remis erleichtert auf seine Klaue flog. Verwundert sah Grim, dass feine blaue Funken über seine Finger tanzten. Auch die Hände der anderen wurden in blaues Licht gehüllt.
»Jetzt seid ihr bereit«, sagte Hortensius mit seltener Hingabe in seiner Stimme. »Jetzt seid ihr würdig, an jenen Ort zu gelangen, zu dem ich euch führen werde: zum Grab von Aldrir — dem letzten Krieger des Lichts.«
Kapitel 26
as erste Licht des Tages fiel durch die hohen Fenster der Christ Church Cathedral und zauberte Schattenspiele auf den mit bunten Mosaiken bedeckten Boden. Mia roch den Rauch erloschener Kerzen, und ein Gefühl von Anspannung legte sich auf ihre Schultern, als sie hinter Hortensius die Stufen zur Krypta hinabstieg. Mit einem Flüstern entzündete der Zwerg eine von vier mit gläsernen Zylindern umgebenen Kerzen, die er an metallenen Schlaufen in der Hand trug.
Remis sog leise die Luft ein. »The cold smell of sacred stone«, flüsterte er und fing Mias überraschten Blick mit schelmischem Zwinkern auf. Sie musste lächeln. Niemals hätte sie erwartet, einen Moorkobold aus
Ulysses
zitieren zu hören. Grim hingegen schaute so finster vor sich hin, dass seine Augen vollständig in dunklen Schatten lagen.
»Deswegen mussten wir also auf diesem verfluchten Feld herumsitzen«, grollte er neben ihr, ohne auf die Lautstärke seiner Stimme zu achten. Unheimlich hallte sie in den finsteren Gewölben wider, die sich weitläufig in der Dunkelheit verloren. Er hielt seine Hände in die Luft, über die flirrende Funken dahinzogen. »Nur so konnten wir diesen Zauber erlangen, der uns Zugang gewähren wird zum Grab des letzten Kriegers des Lichts. Aber was haben wir dort zu suchen? Wir brauchen einen lebendigen Helden, keinen toten!«
Sie sah ihn an. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte mit seinem zornigen Blick ein Loch in Hortensius' Rücken gebrannt, der zielstrebig vor ihnen herlief. »Geduld«, sagte sie leise. »Wir werden es erfahren.«
Sie lachte, als Grim verächtlich die Luft ausstieß.
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