Grim - Das Erbe des Lichts
ließ.
Remis hatte den Ausdruck in den Augen des Zwergs allerdings nicht bemerkt. »Ja«, sagte er und stemmte nachdenklich die Hände in die Hüfte. »Wieso wurde er denn nicht verbrannt?«
Da schnaubte Hortensius verächtlich und wandte sich ab. »Das werdet ihr erfahren«, raunte er. »Aber nicht jetzt.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, stapfte er zusammen mit Carven in die Finsternis des Grabes hinein.
»Großartig«, murmelte Grim und starrte ihm hinterher, als wollte er ihn mit bloßen Blicken erwürgen. »So langsam begreife ich, warum das Volk der Zwerge unter den Gargoyles nicht gerade für Frohsinn und Freundlichkeit bekannt ist.«
Mit diesen Worten folgte er Hortensius. Mia ging ihm nach. Sie fühlte die Kühle des Grabes auf ihrem Gesicht wie einen Schleier aus uralten, langsam zerreißenden Tüchern. Die Luft wurde beinahe augenblicklich kalt und strömte diesen erhabenen Duft aus, den sie auch in den ältesten Gebäuden Ghrogonias oder in den Katakomben Roms wahrgenommen hatte. An diesem Ort, so schien es ihr, stand die Zeit still.
Sie hob ihre Kerze höher und beleuchtete einen schmalen Gang, dessen Ende sich in der Finsternis verlor. Der trockene, mit kleinen Rollsteinen versehene Boden war mit Lehm überzogen und dämpfte jedes Geräusch, und zahlreiche Symbole schmückten die gewaltigen Steinblöcke, die Wände und Decke des Ganges bildeten. Fasziniert strich Mia über die uralten Steine. Im ersten Moment glaubte sie, dass es Wasser wäre, das da an ihren Fingern haften blieb. Nachlässig wollte sie es abwischen, näherte ihre Hand dabei dem Licht der Kerze — und schrie auf. Erschrocken fuhr Grim herum, und Carven zuckte so stark zusammen, dass er beinahe die Kerze fallenlassen hätte. Mia betrachtete ihre Finger im Schein des Lichtkranzes.
»Blut«, flüsterte sie kaum hörbar. »An den Wänden.«
Grim entfachte ein helles Licht auf seiner Handfläche, und da sahen sie, dass Blutstropfen aus den Ritzen und Spalten der Steine sickerten. Sie tropften von der Decke und zeichneten verschlungene Symbole auf die Wände, als würden unsichtbare Totenhände darüber hinfahren. Mia kämpfte die Panik in sich nieder und wischte sich die Hand an ihrem Mantel ab. Gleichzeitig hörte sie ein dumpfes Poltern vom Eingang des Grabes her. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie, obwohl sie es bereits wusste: Sie waren gefangen.
Hortensius ließ den Blick über die blutigen Wände gleiten. Zum ersten Mal sah Mia in seinen Augen so etwas wie Furcht. »Wir sind bemerkt worden«, sagte er heiser. »Und wir sind nicht willkommen. Er ...«
In diesem Moment bohrte sich ein steinerner Pfahl aus der Wand, schoss auf Hortensius zu und hätte seinen Brustkorb zerschlagen, wenn der Zwerg nicht in Deckung gegangen wäre.
»Verflucht, was ...«, schrie Remis panisch und schwirrte in die Luft. Gleich darauf raste der nächste Pfeiler aus der Wand, dicht gefolgt von scharfen Speeren, die von der Decke auf die Eindringlinge niederstachen.
»Runter!« Grim zog Mia mit sich. Tief geduckt rannten sie den Gang entlang, dicht gefolgt von Carven, der sich an Grims Mantel festhielt, und Remis, der wie ein verirrtes Irrlicht zwischen den gewaltigen Todeswerkzeugen hindurchflitzte. Theryon hatte einen mächtigen Schutzschild um sie gelegt, aber die Wucht der steinernen Waffen zerschlug immer wieder mühelos die Magie, und Hortensius entging mehr als einmal nur knapp einem zerschmetterten Schädel. Endlich hatten sie das Ende des Ganges erreicht und gelangten in eine trapezförmige Grabkammer, von der weitere Gänge abzweigten. Breite Steinblöcke bildeten die Wände. Die Decke wurde von Wandsteinen und schmaleren Blöcken, die mitten im Raum standen, gehalten. Für einen Moment war es totenstill. Mia hörte ihren eigenen Herzschlag überdeutlich, die Finsternis aus den Gängen schien sie anzustarren, und sie rechnete damit, dass jede Sekunde etwas Schreckliches aus der Dunkelheit springen und sie angreifen würde. Dann hörte sie den ersten Schrei.
Instinktiv griff sie nach Grims Klaue, denn dieser Schrei war der Ruf eines Sterbenden gewesen, das wusste sie. Grim zog sie in die Mitte des Raumes, die anderen folgten ihnen, ohne die Gänge aus den Augen zu lassen, denn plötzlich drang das Keuchen weiterer Todgeweihter zu ihnen herüber, ihr Weinen, ihre Schreie und ihre Verzweiflung, die sich zu einem schrillen, fulminanten Chor des Todes vereinten. Im gleichen Moment fühlte Mia, dass sich etwas näherte. Eisige, von
Weitere Kostenlose Bücher