Grim - Das Erbe des Lichts
grauem Staub durchzogene Luft strömte aus allen Gängen zugleich auf sie zu, sie hörte hektisches Atmen, das tausendfach gebrochen von den Wänden widerhallte. Grim schickte mächtige Zauber in seine Klauen, Theryon, Hortensius und Carven gingen in Angriffsstellung, und auch Mia rief ihre Magie und machte sich darauf gefasst, ihr Leben vor dem zu verteidigen, was da kam.
Mit einem Brüllen stoben Schatten aus jedem Gang in den Raum, die sich direkt über ihren Köpfen zu einem dunklen Wirbel vereinten. Dieser blieb kurz in der Luft stehen, um dann mit lautem, wahnsinnigen Lachen auf sie niederzustürzen. Mia sprang wie die anderen zurück. Atemlos starrte sie auf das, was dort vor ihnen auf allen vieren gelandet war und sich nun langsam aufrichtete.
Im ersten Moment sah es aus wie ein in schwarze Lumpen gekleideter Mensch, ein Mann, der sein Gesicht unter einer weiten Kapuze verbarg. Doch auch wenn nicht diese durchdringende Kälte von diesem Wesen ausgegangen wäre, auch wenn Mia nicht die langen, mehlig weißen Totenfinger gesehen hätte, die aus den zerrissenen Lumpen ragten, hätte sie gewusst, dass das kein Mensch war. Etwas Unheimliches ging von diesem Geschöpf aus, etwas Ruheloses, das sie noch nie zuvor gespürt hatte. Für einen Moment schien es ihr, als wäre es keine Kreatur auf zwei Beinen, die da vor ihr stand, sondern ein schwarzer Fluss, der sie mitreißen würde, täte sie nur noch einen einzigen Schritt.
Da hob der Fremde den Kopf. Sein Gesicht wurde von der Dunkelheit seiner Kapuze verborgen, doch Mia wusste, dass er sie ansah. Sein Blick griff nach ihr, als hätte er eine Klaue. Sie wich zurück und sah schaudernd zu, wie der Fremde die Hände hob. Die Ärmel seines Gewandes rutschten ein wenig hinab, das Fleisch an seinen Armen war eingefallen und vertrocknet wie bei einer Mumie. Sie starrte in die Finsternis, dorthin, wo das Gesicht dieser Kreatur sein musste. Für einen Augenblick meinte sie, ein Lachen zu hören. Dann zog der Fremde sich die Kapuze vom Kopf.
Bleiche Haut zog sich über ein zerfressenes Totengesicht wie gefrorene Tücher, die Lippen waren von den verfaulten Zähnen zurückgewichen, und Mia meinte fast, das Blut in den vertrockneten Adern riechen zu können. Doch gleich darauf füllten sich die Augen des Fremden mit Nebel, einem sanften, geisterhaften Dunst, der seinem Körper innewohnte: Schleier des Todes. Mia hätte zurückweichen müssen, das war ihr klar, aber neben der Furcht, die in ihre Glieder kroch, fühlte sie eine seltsame Benommenheit, als der Fremde auf sie zutrat. Wie durch Watte hörte sie, dass Grim einen Zauber sprach, doch der Fremde hob nur die Hand und wehrte ihn ab, als wäre er nichts als ein vom Wind umhergewirbeltes Blatt. Mia sah aus dem Augenwinkel, wie Grim in die Knie ging. Der Fremde streckte die Hand nach ihm aus, ohne sich von ihr abzuwenden. Dicht vor ihr blieb er stehen, die Nebel in seinen Augen krochen aus ihren Höhlen und strichen ihr über die Wange.
»Es ist lange her«, wisperte der Fremde, ohne den Mund zu bewegen, »dass sich ein Mensch hierher begab. Nun bist du gekommen, hierher in meine Verdammnis, um mich zu wärmen ... mich, den Niemalstoten ... mit deinem ... Leben ...« Der Fremde lächelte, er schien ihren Herzschlag zu hören. Fleisch legte sich auf seine Wangen und seinen Hals, langsam zog sich Haut darüber, dunkles Haar wuchs auf seinem Schädel und fiel in sanften Strähnen bis auf seine Schultern hinab, bis er sich in einen Mann um die dreißig mit vollem Haar und ebenmäßigem Gesicht verwandelt hatte. Auch sein zerrissener Mantel war verschwunden. Er trug nun schwarze Kleidung aus Leder und festem Samt, und an seinem Gürtel hing ein Schwert aus lang vergangener Zeit. Nur seine Augenhöhlen zeigten noch immer nichts als den Nebel, der in seinem Inneren lauerte. »Doch zuvor sage mir«, flüsterte er, »was trieb euch dazu, meine Ruhe zu stören und euch so in die Hände des Todes zu begeben?«
Lähmend strich die Kälte seines Körpers über Mias Haut. »Wir sind auf der Suche nach dem Krieger des Lichts«, brachte sie heraus. »Die Welt steht vor dem Untergang und ...«
Da lachte der Fremde, es war ein helles, klares Lachen, das seltsam unpassend klang in der Finsternis der Gruft. »Schon wieder?«, fragte er amüsiert. »Und ihr habt vor, sie zu retten? Warum?«
Mia sah, wie er die Hand nach ihrer Kehle ausstreckte, doch noch ehe er sie berührt hatte, wurde ihr der Atem abgedrückt. Sie griff nach seinem
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