Grim - Das Erbe des Lichts
der Ecke des Zimmers erschreckte ihn so sehr, dass er sich den Arm am Bettpfosten stieß. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit. Dort hockte ein kleines Mädchen mit dichten, dunklen Locken und Augen wie aus blauem Gletschereis. Instinktiv wusste Grim, dass dieses Kind in dieser Illusion seine Schwester war. Er sprang aus dem Bett und bemerkte, dass er einen dünnen, viel zu großen Schlafanzug trug. Schnell zog er seine Decke an sich, lief mit tapsendem Geräusch zu dem Mädchen und legte sie ihr um die Schultern.
»Keine Angst«, sagte er mit seltsam hoher Stimme. »Es wird alles wieder gut.«
Grim spürte die Übelkeit, die bei diesen Worten in ihm aufstieg. Nichts wurde gut, das wusste er, aber das Mädchen war zu klein, um das zu begreifen. Er hatte gerade einen Arm um sie gelegt, um sie wieder ins Bett zu bringen, als etwas gegen die Tür flog.
»Dämliche Schlampe!«, grölte ein betrunkener Mann und schlug nach einer Frau, die schluchzend an der Tür niedersank.
Grim stand da wie versteinert. Er hörte die dumpfen Schläge, seine Schwester zuckte bei jedem einzelnen zusammen. Die Frau hinter der Tür war seine Mutter, das war ihm plötzlich klar, und der Kerl, der in diesem Zustand auf sie einschlug, war sein Stiefvater, den sie vor Monaten in einer Bar aufgegabelt hatte. Grim spürte die Wut in sich aufsteigen, glühend schwemmte sie jede Furcht davon. Er schob seine Schwester wortlos zu ihrem Bett, näherte sich der Tür und riss sie auf.
Vor ihm stand ein fettleibiger Kerl mit glänzender Stirn und vom Alkohol geröteten Wangen. Er trug ein fleckiges Unterhemd, das über seine Jogginghose hing, und hielt einen seiner Schuhe in der Hand. Mit glasigen Augen starrte er zu Grim herüber, offensichtlich brauchte er einen Moment, bis er begriff, wer da die Tür geöffnet hatte. Dann trat Zorn in seinen Blick. Mit einem Satz war er bei Grim, riss ihn am Kragen seines Schlafanzugs in die Luft und schüttelte ihn wie von Sinnen. »Du Bastard«, grölte der Mann. Sein Atem schlug Grim wie ein Fausthieb ins Gesicht. »Muss ich dir zeigen, was Manieren sind? Deine Hure von einer Mutter hätte dich mit deinem Versager von Vater begraben sollen, dann wäre mir dein Anblick erspart geblieben!«
Er ließ Grim fallen, der seinen Sturz nicht abfangen konnte und mit dem Kopf auf den Boden schlug. Grim spürte, wie ihm Blut übers rechte Auge lief, doch der Blick seiner Mutter war schlimmer. Kälte lag darin und eine unnennbare Feindseligkeit.
Du bist wie er,
hatte sie ihm nach dem Tod seines Vaters gesagt, und seitdem hatte sie ihn gehasst und nie den Versuch gemacht, das vor ihm zu verbergen.
Grim kam auf die Beine, doch da holte der Kerl aus und schlug ihm ins Gesicht. Aber Grim fiel nicht noch einmal hin. Er schwankte und starrte den riesigen Mann an, als könnte er ihn mit purer Wut erwürgen.
»Willst du mich umbringen?«, lallte der Mann und lachte ein widerlich klebriges Lachen. Taumelnd griff er nach einer Bierflasche, die auf dem Tisch gestanden hatte. Sie glitt ihm aus der Hand und zerbrach auf dem Boden. Boshaft grinsend packte er den Flaschenhals. Für einen Moment stand er da wie ein wahnsinniges Tier. Dann sprang er vor und schlug mit der Flasche nach Grim, der beim Ausweichen stolperte und der Länge nach hinschlug. Schon sah er den Schatten des Mannes, er wusste, dass er ihn umbringen würde. Benommen rappelte er sich auf, doch da sauste der Arm mit der Flasche bereits auf ihn nieder.
Ein Schrei zerriss die dumpfe Stille, die sich über die Szene gelegt hatte. Grim fuhr zurück, seine Schwester hatte den Arm des Mannes gepackt und biss mit aller Kraft hinein.
»Du kleine Kröte«, brüllte der Mann, packte das Mädchen an den Haaren und schleuderte es mit voller Wucht gegen die Wand. Ihr Kopf prallte gegen den Beton, reglos fiel sie zu Boden. Grim hörte ihren Herzschlag, ihr Blick suchte nach ihm, voller Angst hielt sie sich an ihm fest. Grim fühlte sein Herz wie von eisigen Klauen umfasst. Er stürzte zu ihr, doch schon krampfte sich ihre Brust zusammen, ihre Augen drehten sich nach oben, und noch ehe er sie erreicht hatte, war sie tot.
Auf der Stelle war jedes Geräusch um Grim verstummt. Er hörte nichts mehr als seinen eigenen Atem, hilflos und verzweifelt in der unheimlichen Stille, die ihn auf einmal umgab. Es schien ihm, als würde er vor einem Abgrund aus Finsternis stehen, noch nie hatte er etwas Ähnliches empfunden. Dieser Abgrund zog ihn an, er fühlte den Wind in seinem Haar, als
Weitere Kostenlose Bücher