Grim - Das Erbe des Lichts
eine Gestalt aus Licht. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, nur seine Augen waren dunkel und nebelhaft geblieben. Dann riss der Krieger des Lichts die Fäuste über seinen Kopf, der Dolch schoss nach vorn aus seiner Brust, und sein Körper zerbarst wie eine brechende Skulptur aus Eis.
Wie in Zeitlupe flogen kristallene Splitter durch die Finsternis der Gruft. Grim fühlte die Lichter des zerbrochenen Körpers auf seinem Gesicht und sah plötzlich Bewegungen, die in den einzelnen Scherben aufflackerten. Winzige, bruchstückhafte Bilder waren es, wie die Erinnerungen der Menschen, in die er zeit seines Lebens geblickt hatte — und doch mehr als das. Was Grim in Aldrirs zerbrochenem Körper sah, waren die Gedanken, Erlebnisse und Sehnsüchte aller Krieger des Lichts, die nach Aldrir gelebt hatten. Grim sah lachende Gesichter, Wolken, die über ein spiegelglattes Meer zogen, Armut in schäbigen Baracken und Kinderfüße, die über eine Sommerwiese liefen. Ein seltsames Gefühl ergriff ihn, als er ein lachendes Mädchen in einem Zugabteil sah, einen Hund, der davonlief, und den letzten Sommertag eines Jahres vor längst vergangener Zeit.
Wie flüchtig,
ging es ihm durch den Kopf,
ist ein Menschenleben — und wie viel kostbarer als eine Existenz der Ewigkeit.
Er betrachtete Mia von der Seite, sah den Glanz in ihren Augen, als sie das Schauspiel der Scherben beobachtete, und spürte wieder einmal in ganzer Tragweite, dass sie ein Mensch war — ein Mensch, dessen Zeit begrenzt war, ein Mensch, der leicht wie ein Schmetterlingsflügel durch die Zeit glitt und verschwunden war, ehe steinerne Klauen ihn greifen konnten — ein Mensch, der sterben würde.
Kaum hatte er das gedacht, als sich die Scherben in der Mitte der Gruft sammelten. Sie bildeten einen wirbelnden Körper aus Licht und Farben, und für einen Moment schwebte Aldrir vor ihnen, wie er einst gewesen war: als strahlender Nachfahre Kirgans, ohne Zweifel, ohne Gier in seinem Blick, mit Hoffnung in jeder Faser seines kristallenen Körpers und dem Willen, für eine bessere Welt zu kämpfen, selbst wenn es das eigene Leben kosten würde. Hoch über der Erde schwebte der Krieger des Lichts, und für diesen Augenblick gab Grim sich dem Zauber hin und ließ es zu, dass ein Lächeln über sein Gesicht zog. Dann breitete der Nebel in Aldrirs Augen sich aus, überzog das soeben noch strahlende Licht und verwandelte seinen Körper in einen Totenleib, umhüllt von zerrissenen Kleidern. Aldrirs Kopf fiel nach vorn, hart stürzte er auf den kalten Boden und alle Lichter erloschen.
Hortensius wollte zu ihm laufen, doch Aldrir kam schon auf die Beine, schwerfällig und schwankend wie nach einem heftigen Kampf. Er fuhr sich an die Brust, Blut blieb an seinen Fingern haften, das sich rasch in braunen Staub verwandelte. Grim schaute auf die zu Boden fallenden Flocken, etwas Schweres setzte sich auf seinen Brustkorb, als er in Aldrirs Nebelaugen blickte. »Hast du ihn gefunden?«, fragte er leise. »Den letzten Krieger des Lichts ... deinen Nachfahren?«
Aldrir sah ihn an, aber etwas lag in seinem Blick, das Grim beunruhigte. »Seht selbst«, erwiderte er mit rauer Stimme. »Seht, wen ich gefunden habe.«
Lautlos kam der Zauber über seine Lippen. Grim schmeckte Blut auf der Zunge, das warme, schwere Blut Aldrirs, das ihm ohne sein Zutun die Kehle hinabrann. Er sah noch, wie Mia erschrocken nach seiner Klaue griff. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Für einige Augenblicke wusste er nichts mehr. Er schwebte in der Dunkelheit, obwohl er fühlte, dass er in einem Bett lag, einem Bett mit dünner, zerschlissener Decke, das in einem eiskalten Raum ohne Heizung stand. Er wusste, dass er sich in der Illusion von Aldrir befand — in jenem Bild, das der Krieger am Ende seiner Reise gefunden hatte. Er war ein Menschenkind, ein Junge, und erwachte gerade aus einem unruhigen Traum. Etwas hatte ihn geweckt.
Ein lautes Poltern ließ ihn zusammenfahren, dicht gefolgt von unverständlichem Gebrüll. Erschrocken riss Grim die Augen auf und fand sich in einem kargen Zimmer wieder. Viel zu sehen gab es nicht, zwei Betten, ein klappriger Schrank und eine uralte, an den Ecken abgerissene Tapete. Grim roch den Schimmel, der in schwarzen Flecken an der Decke wucherte. Fahles Licht fiel durch die Umrisse der geschlossenen Tür. Dahinter rumpelte es, und Grim spürte bei diesen Geräuschen ein drückendes Gefühl in der Magengegend. Es fühlte sich an wie Hunger — und Angst.
Ein Schluchzen aus
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