Grim - Das Erbe des Lichts
Völkern misstrauisch begegneten. Besonders einigen Hybriden fiel es schwer, den Gargoyles gegenüber nicht nachtragend zu sein, nachdem sie jahrhundertelang von ihnen als Sklaven gehalten worden waren. Dennoch spürte Mia ihn deutlich, den Atem einer neuen Zeit, der die meisten Anderwesen mit gewaltiger Macht ergriffen hatte und sie dazu trieb, den Zauber des Aufbruchs für eine gemeinsame Zukunft zu nutzen. Mia nahm sich nicht aus: Auch sie hatte ja beschlossen, etwas zu verändern.
Sie holte tief Atem, ließ den Blick über die wachsende Stadt schweifen und wünschte sich zum wiederholten Mal, dass Jakob das alles sehen könnte. Für einen Moment meinte sie, die Magie des Grabes noch einmal an ihren Fingern zu spüren. Nach ihrem Besuch auf dem Friedhof hatte sie umgehend die Kobolde ausgeschickt, um Jakob zu finden, und dann versucht, den Tag über zu schlafen. Das Leben in Ghrogonia fand in der Nacht statt, und nach einigen Minuten atemlosen Wachliegens war sie tatsächlich eingeschlafen. Sie hatte von Jakob geträumt, ihrem Bruder, der endlich in ihre Welt zurückgekehrt war und nun irgendwo in Paris herumlief, ohne sich vermutlich an irgendetwas zu erinnern — außer daran, dass er mit enormer magischer Kraftaufwendung aus einem Grab geklettert war. Mia wusste, dass es bei einem Wechsel zwischen zwei Welten nicht ungewöhnlich war, wenn ein Wesen dabei Teile der Erinnerung verlor. Für gewöhnlich kehrten sie zwar nach und nach zurück, aber so lange wollte sie nicht warten. Ihre Sehnsucht nach Jakob hatte ein schmerzhaftes Brennen in ihren Magen gepflanzt, und sie musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht selbst nach ihm zu suchen. Doch die Kobolde waren bedeutend schneller und chancenreicher als sie, und noch dazu hatte sie reichlich Arbeit vor sich. Dennoch konnte sie es kaum erwarten, Grim von der Angelegenheit zu erzählen. Er war den ganzen Tag über nicht nach Hause gekommen, vermutlich hatte er die Stunden über seinem Schreibtisch verbracht. Aber gleich würde sie ihn sehen, denn sie hatten sich am Eingang der Flimmergassen verabredet — eines dunklen Geflechts verwinkelter Straßen, in denen sich neben einer Reihe Alchemisten und Zauberer auch einige namhafte Trödler niedergelassen hatten. Einer von ihnen, ein gewisser Hieronimus Firensius Balthasar, hatte Mia vor wenigen Tagen eine Nachricht zukommen lassen, in der er ihr mitteilte, seit Kurzem über ein besonders seltenes Artefakt zu verfügen, das auf ihrer Ausstellung nicht fehlen dürfte. Da die Ausstellung bereits in zwei Tagen stattfinden würde, hatte Mia zwar eigentlich schon alle Stücke beisammen, die sie den Menschen zeigen wollte — aber neugierig war sie doch, um was für ein Artefakt es sich handeln würde. Sollte es sich tatsächlich als einzigartig erweisen, würde sie ihm noch einen Platz in einem der Schaukästen zuweisen.
Der Esel landete auf dem steinernen Plateau des Taxistands, ließ sich von Mia bezahlen und einen Apfel zustecken und erhob sich wieder in die Luft. Mia wandte sich um und schaute kurz von ihrer erhöhten Position aus in das Gewimmel aus Anderwesen, das sich durch die enge Gasse schob. Sie sah Gnome, deren Haut sich ledrig über ihren freundlichen Gesichtern spannte, und Waldschrate, die wie gewöhnlich ungeheuer nach Knoblauch rochen. Auch Nornen waren da, geisterhaft schöne Frauen, die sich mit ätherischer Anmut durch die Menge bewegten. Mia fing den einen oder anderen Blick eines Anderwesens auf. Im Gegensatz zu den Bewohnern der Prunkviertel in Ghrogonia begegneten die Geschöpfe der Schluchten ihr stets freundlich, und das nicht nur, weil sie gegen Seraphin gekämpft und ihr Leben für die Stadt aller riskiert hatte. Sie war ein Mensch, sie gehörte in die Oberwelt, die streng von der Welt der Anderwesen getrennt war, solange der Zauber des Vergessens bestand. Daran ließ sich nun einmal nichts ändern, und auch wenn sie ab und zu ihre Mutter oder ihre Tante Josi zu Besuch nach Ghrogonia brachte, blieb sie doch die Einzige ihrer Art: eine Hartidin, eine Seherin des Möglichen, ungeschlagen vom Zauber des Vergessens — der einzige Mensch, der die Stadt sehen konnte, wie sie wirklich war, wohingegen die Anderwesen ihrer Familie nie in ihrer wahren Gestalt erschienen. Ihre Mutter und Josi konnten zwar fühlen, wer diese wirklich waren — doch
sehen
konnten sie die Wahrheit nicht. Diese Tatsache hatte einen Schleier um Mia geschlungen, der sie mit unsichtbarer Kälte von den anderen Wesen
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