Grim - Das Erbe des Lichts
Herrscher erzählt hatte. Sie liebte Geschichten über die Anderwelt, ob sie nun der Wahrheit entsprachen oder nicht. Wieder spürte Grim das rätselhafte Ziehen in der Brust, doch im selben Moment bemerkte er den Nebel, der zart und geisterhaft aus der Dunkelheit des Waldes aufstieg.
Er umschmeichelte die Blätter und kroch hinauf in die Wipfel, bis nur noch die Kronen der höchsten Bäume wie Inseln aus dem Meer aus weißen Schleiern ragten. Grim spürte das Wispern, das mit zitternden, unsichtbaren Lippen über seine Haut strich, ehe er es hörte. Misstrauisch beobachtete er, wie feine Fäden sich aus dem Nebel hoben. Sie bewegten sich wie lebendige Wesen. Etwas stimmte hier nicht.
Grim gab Asmael ein Zeichen, gleichzeitig stiegen sie höher — doch es war schon zu spät. In überraschender Geschwindigkeit schossen mehrere Nebelfäden aus dem Meer unter ihnen, formten sich zu Klauen und griffen nach ihren Schwingen. Grim spürte eine eisige Hand an seinem rechten Bein, starr wie eine Pranke aus Eisen schloss sie sich um seinen Knöchel und zog ihn hinab. Asmael stieß einen heiseren Schrei aus, panisch schlug er mit den Vorderbeinen aus, als Hortensius und Carven von seinem Rücken gerissen wurden. Remis kreischte und krallte sich an Grim fest, der gerade noch sah, wie Asmael die Nebelfäden um seine Schwingen mit einem gewaltigen Tritt durchtrennte und sich in den Himmel schwang. Dann schlug der Nebel über Grims Kopf zusammen.
Außer sich schleuderte er einen Feuerzauber auf die Nebelhand, die ihn umfasst hielt. Sofort stob sie auseinander. In letzter Sekunde ergriff Grim Hortensius und Carven am Kragen und zerschlug die Klauen aus Nebel, die sie umfasst hielten. Gleich darauf traf ihn ein heftiger Hieb im Nacken, dicht gefolgt vom zischenden Geräusch fliegender Pfeile. Grim errichtete einen Schutzwall und schleuderte Feuerlanzen in den Nebel. Immer wieder zerriss er die geisterhaften Klauen, die nach ihm griffen, doch sie bildeten sich umgehend neu, als wären sie Teil eines unsichtbaren Geistes, der sie zusammenhielt. Verzweifelt schlug Grim mit den Schwingen, doch dann traf ihn ein Schlag am Kopf. Ihm wurde schwarz vor Augen, er fühlte, wie seine Magie seinen Körper verließ. Schon spürte er den Wind auf seinem Gesicht. Sie stürzten ab. Mit letzter Kraft versuchte er, Carven und Hortensius vor den Ästen zu schützen, als sie durch die Baumkronen brachen. Remis verbarg den Kopf an seinem Hals. Da tauchte der Boden unter ihnen auf, lückenhaft überzogen von dem unheimlichen Nebel. Grim breitete die Schwingen aus und milderte ihren Sturz. Unsanft landeten sie in einem Gebüsch und kamen stöhnend auf die Beine.
Angespannt hob Grim den Blick und sah die Geisterklauen, die drohend durch die Wipfel der Bäume flogen.
»Boshafte Dryaden«, flüsterte Remis mit finsterer Miene und pflückte sich froststarrende Blätter aus den Haaren. »Ich erinnere mich daran, wie sie uns Koboldkinder in Angst und Schrecken versetzten, damals, als meine Familie noch in diesem Wald lebte. Sie sind wütend darüber, dass wir ihren Wald überqueren wollten. Es ist ungewöhnlich, dass sie friedfertigen Anderwesen so nah kommen, aber die Feenmagie hat sie übermütig gemacht. Sie werden uns nicht gehen lassen.«
Grim zog die Brauen zusammen. Wie ein Schwarm aus Geiern kreisten die Dryaden über ihnen. Er hatte schon einmal schmerzhafte Erfahrungen mit diesem Volk gemacht und nicht den Wunsch, diese zu wiederholen. Glücklicherweise waren Nebeldryaden nicht besonders klug. Bald schon würden sie die Eindringlinge vergessen haben. Aber so lange würden sie jeden Versuch ihrer Gefangenen, den Wald zu verlassen, unterbinden.
Leise knisternd fielen Schneeflocken auf einzelne trockene Blätter, und der Wind fuhr um die Bäume, wispernd wie ein lebendiges Tier. Grim witterte, doch er nahm keine Wesen in ihrer Nähe wahr, abgesehen von zwei Eichhörnchen und allerhand Insektengetier unter den Baumrinden. Und dennoch — eine seltsame Unruhe lag in der Luft, ein abwartendes und gieriges Lauern, das Grim sich nicht erklären konnte. Düstere Bäume umdrängten sie, die gerade eben noch — das hätte Grim schwören können — um einiges weiter entfernt gestanden hatten, und auch die Bhor Lhelyn hatten Einzug gehalten. Als fluoreszierende Lianen und Waldreben durchzogen sie die Finsternis und erblühten mit schwarz glimmenden Blüten in wilder Schönheit auf den Ästen mancher Bäume.
»Wir sind in einem Zauberwald gelandet«,
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