Grim - Das Erbe des Lichts
hörbar, während er zur Tür eilte. »Aber wir müssen uns beeilen.«
So leise wie möglich liefen sie über den Gang, durchquerten einige Zimmer und gelangten durch eine Geheimtür in eine winzige Kammer mit einem Medusenkopf als Mosaik an der Wand. Vorsichtig legte Theryon Jakob auf den Boden. »Bald schon wird sie meinen Zauber um die Scherbe zerreißen und dann ...«, Theryon hielt kurz inne. »Dann wird sie uns finden.«
Mia spürte, dass ihre Hände zitterten. Hilflos strich sie über Jakobs Stirn und fühlte das Fieber, das in heftigen Schüben durch seinen Körper pulste.
»Ich muss die Königin aus der Scherbe in Jakobs Brust vertreiben«, sagte Theryon leise. »Doch ich muss es schnell tun, und mir fehlen die Zauberpulver, die ich für gewöhnlich dafür brauche. Daher muss ich es auf anderem Weg versuchen. Für diesen Weg brauche ich deine Hilfe. Aber er ist nicht ungefährlich, es könnte sein, dass du ...«
Theryon verstummte. Mia wusste, dass er Jakob liebte wie einen Bruder, und sie wusste auch, dass nicht nur sie selbst, sondern auch Jakob sterben konnte bei dem, was Theryon vorhatte. Aber es war ihre einzige Chance, der Königin zu entkommen. Ruhig hob sie den Kopf und sah Theryon an.
»Was muss ich tun?«
Kapitel 35
rim spürte die Kälte des Bannzaubers als schneidende Fessel um seine Kehle, noch ehe er vollständig aus seiner Ohnmacht erwacht war. Rote Lichter flackerten hinter seinen geschlossenen Lidern, er hörte das Prasseln eines Feuers und roch den scharfen Duft des Betäubungszaubers, der in seinen Nacken geflogen war. Er lehnte an einer Wand und war an Armen und Beinen mit Bannschnüren gefesselt. Neben ihm, das spürte er, hockten Hortensius und Carven. Der Zwerg lag in tiefer Ohnmacht, ein starker Zauber hielt seinen Geist gefangen, doch der Junge war bei Bewusstsein, wie Grim an seiner Atmung erkannte.
Mühsam öffnete er die Augen. Das Licht des Feuers stach mit Lanzen nach ihm, tausend Funken zersprangen schmerzhaft in seinem Kopf. Er blinzelte und erkannte die Umrisse eines Zimmers. Ein Kamin stand neben einer hölzernen Tür, hohe Regale erhoben sich an allen Wänden und trugen Unmengen an Büchern und alchemistischen Utensilien. Von der Decke hingen Töpfe und Pfannen in verschiedenen Größen und ein gewaltiger Kessel. Mitten im Zimmer stand ein schwarz beschichteter Herd. Vor dem Fenster, hinter dem finsterste Nacht herrschte, hingen leere Vogelkäfige in verschiedenen Größen, und davor stand ein Tisch. Die Hexe Dramdya war nirgendwo zu sehen. Das einzige Wesen, das sich mit ihnen in diesem Zimmer befand, war eine kleine Elfe, die gerade mit einem Wischlappen einen der Käfige reinigte.
Sie trug ein rotes Seidenkleidchen mit Puffärmeln, und ihre Haut schimmerte in grüngoldenem Schein. Um ihren Hals trug sie eine vergoldete Erdnuss. Ihre großen, zu den Seiten schmal zulaufenden Augen waren hellgrün wie die ersten Blätter des Jahres, ihre Haare standen in dunkelblauen Strähnen von ihrem Kopf ab und reichten bis zu ihrer Hüfte. Ihre Haut war so zart, dass Grim das Licht ihres Blutes durch ihre Adern schimmern sah. An ihrem rechten Fuß hing eine Kette, die quer durchs Zimmer führte und an einem Haken in der Wand befestigt war. Grim spürte die Magie dieser Fessel und musste nicht das traurige Gesicht der Elfe betrachten, um eines zu wissen: Auch sie war eine Gefangene der Hexe.
Hast du geglaubt, dass du Dramdya entkommen kannst, Dramdya, der Hexe der Nacht?
Grim schauderte. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, dass sie tatsächlich existierte. Dramdya — das war nur einer ihrer Namen. In den Sagen und Legenden der Östlichen Anderwelt spielte sie häufig eine Rolle, Baba Jaga wurde sie in der slawischen Mythologie der Menschen genannt. Grim kannte sie auch als Schwanendame mit den tödlichen Schwestern, als dämonische Vogelfrau, die in den Raunächten die Wilde Jagd begleitete, oder als schreckliche Wolfswandlerin, die vorzugsweise junge Männer unter herrlichen Gesängen in die Wälder lockte, um sie dort zu fressen. Er wusste nicht, ob sie tatsächlich eine Hexe war oder sich nur als eine solche bezeichnete. Jedenfalls war sie alt, ein Geschöpf aus lang vergangener Zeit, dessen Spuren sich im Sturm des Mantikors verloren — jener Epoche, in der Bukarest unter dem gefürchteten Mantikor beinahe das Rückgrat gebrochen worden wäre, hätten die Schattenflügler die dortige Anderwelt nicht befreit.
Hüte dich vor den Wäldern,
hatten die Sagen des Ostens
Weitere Kostenlose Bücher