Grim - Das Erbe des Lichts
sie durchliefen, die Wandmalereien, die mit der unsichtbaren Hand der blauen Magie vollendet wurden, und die Fenster, die sich unter leisem Klirren zusammensetzten. Eilig stürmten sie eine breite Treppe aus Mondstein hinauf, die wie der Rest des Schlosses aus sich selbst heraus in samtenem Silberlicht erstrahlte, und wollten gerade in einen schmalen Gang einbiegen, als eine männliche Fee in weißsilberner Rüstung an dessen Ende auftauchte. Der Krieger schritt schnell aus, sein Blick ruhte auf den tanzenden Lichtern, die durch die Fensterfront zu seiner Rechten fielen, doch dann wandte er den Kopf und schaute den Gang hinab.
Keuchend drückte Mia sich neben Theryon in eine Wandnische. Der Anblick der Fee war wie ein Schlag vor die Brust gewesen. Hatte der Fremde sie gesehen? Seine Schritte klangen unverändert zu ihnen herüber, aber das musste nichts heißen. Feen waren Meister der Tarnung. Bis heute war es ihr noch niemals gelungen, aus Theryons Verhalten Rückschlüsse auf seine Gedanken und Pläne zu ziehen, wenn er es hatte verhindern wollen. Sie spürte, wie er einen Zauber in seine Finger schickte, sanft vibrierte die Luft um seinen Körper herum. Mia hielt den Atem an. Die Schritte des Kriegers kamen näher, schon spürte sie die magische Kraft seiner Rüstung und sah das leichte Flackern in der Luft, als sein Körper sich in ihr Sichtfeld schob.
Da sprang Theryon in den Gang. Er landete direkt vor dem Fremden, und ehe dieser zurückweichen konnte, trafen die Finger des Feenkriegers ihn in rascher Folge an Stirn und Hals. Ungläubig starrte er Theryon an, erst jetzt schien er zu begreifen, was geschehen war. Er öffnete den Mund, doch ehe er seine Abwehrformel beenden konnte, zog Theryons Zauber ihn in die Bewusstlosigkeit. Er schwankte, doch Theryon packte ihn an den Schläfen und hielt ihn aufrecht.
Angespannt trat Mia näher, den Blick prüfend nach rechts und links gewandt. Niemand näherte sich. Über Theryons Finger ging ein bläuliches Flackern, dann begannen seine Fingerspitzen zu glühen, als würden sie von der anderen Seite von hellem Licht durchstrahlt. Fasziniert beobachtete Mia, wie winzige Bilder durch die beinahe transparente Haut des Fremden in Theryons Finger glitten, sich durch seine Arme in seine Schläfen schoben und für einen Moment in seinen Augen aufflammten. Dann zog Theryon seine Hände zurück, packte den Fremden am Kragen und zog ihn in die Wandnische, in der er sich mit Mia versteckt hatte. Mia murmelte einen Verhüllungszauber, der sich über die Nische legte und sie nahtlos mit der Wand verschmolz. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Fremde das Bewusstsein wiedererlangen würde. Sie mussten sich beeilen.
Schnell wechselte sie einen Blick mit Theryon. Er hatte die Gedanken des Fremden gelesen, das wusste sie, und er hatte herausgefunden, wo Jakob sich befand. Sie eilten den Gang hinunter. Auf einmal schien es Mia, als würden verstärkt Stimmen zu ihnen dringen, ebenso wie hektische Schritte auf Treppen und Korridoren, die nur ein Ziel hatten: sie zu finden. Sie wusste, dass ihre Anspannung ihr einen Streich spielte, und zwang sich, ihre Sinne auf sich selbst zu konzentrieren, ohne ihre Umgebung aus den Augen zu verlieren — eine Technik, die Theryon ihr zu Beginn ihrer Ausbildung beigebracht hatte. Sie hörte das Blut in ihren Adern, fühlte, wie sich ihre Muskeln spannten, als sie Treppe um Treppe aufwärtseilten, und sah das kaum wahrnehmbare silberne Licht, das ihr Schutzzauber ausströmte. Nicht nur einmal mussten sie Feen ausweichen, die ihren Weg kreuzten, und oft entgingen sie nur knapp einer Entdeckung. Sie befanden sich gerade in einem schmalen, schwarz-marmornen Gang mit mehreren Sockeln, auf denen sich unter den Fingern der blauen Nebel Statuen errichteten, als Theryon vor einer Tür aus verziertem Silber stehen blieb.
Noch ehe Mia ihn ansah, wusste sie, dass Jakob hinter dieser Tür war. Auf einmal pochte ihr Herz überlaut in ihren Ohren, die verschlungenen Ornamente auf der Tür bewegten sich in tranceähnlichen Kreisen. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, ihren Bruder wiederzusehen, ihn umarmen und mit ihm sprechen zu können, und wie oft war sie nachts aus einem Albtraum erwacht mit der unfassbaren Angst, dass dies niemals geschehen würde. Jetzt war der Moment gekommen — und sie rührte sich nicht. Jakobs Augen standen vor ihrem Blick, diese fremden, kalten Augen voller Leere. Sie fühlte, dass Theryon sie ansah, und ballte die Fäuste. Jetzt war
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