Grim - Das Erbe des Lichts
Pub in Temple Bar zu ihr herüberklang. Unruhig warf sie Theryon einen Blick zu, doch der Feenkrieger stand regungslos und schaute auf die Nordseite der Stadt hinüber, die Augen fest auf die O'Connell Street gerichtet, als könnte er durch all die Häuser, die ihm im Weg standen, die Spire of Dublin erkennen. Jakob hingegen lehnte am Geländer der Brücke und schaute ins Wasser hinab, als würde es ihm Geschichten erzählen. Sein blondes Haar wehte ihm Wind, Schneeflocken verfingen sich darin.
Mia spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sie ihren Bruder betrachtete, und sie erinnerte sich daran, dass sie im vergangenen Jahr häufig aus Albträumen erwacht war, die ebenso begonnen hatten wie dieser Moment: Sie hatte neben Jakob gestanden oder war auf ihn zugegangen, alles hatte real gewirkt, doch dann, gerade als das Glücksgefühl in ihrem Magen explodierte, war er verschwunden. Sie berührte ihn an der Schulter und lächelte. Diese Träume waren vorbei.
Seufzend schaute sie zum Himmel auf und lauschte, doch sie hörte nichts als das Dröhnen vereinzelter Autos, Stimmen von Passanten und die allgegenwärtige Musik.
»Sie werden kommen«, sagte Theryon und lächelte.
Mia verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, von einem Feenkrieger dem Gedankenlesen unterzogen zu werden. Zum wiederholten Mal holte sie ihren Pieper aus der Tasche und las die letzte Nachricht, die Grim ihr gesandt hatte. Wieder spürte sie die kribbelnde Aufregung, die bei dieser Neuigkeit ihren Nacken hinabflog:
Carven hat das Schwert erlangt. Werden bald zurück sein. Gib inzwischen auf dich acht, Menschenkind.
Sie lächelte, als sie das letzte Wort las, denn sie wusste, wie Grim es betonte, wenn er mit ihr sprach: sanft und zärtlich und mit diesem zögernden Unterton in der Stimme, als würde er sich seiner eigenen Verletzlichkeit in diesen Momenten besonders bewusst werden. Sie holte tief Atem.
Carven hat das Schwert erlangt.
Theryons Bannzauber hielt die Königin und ihr Gefolge im Schloss auf Tara gefangen, und es würde ein Leichtes sein, sich ins Innere des Gebäudes zu schleichen. Sie würden einiges Geschick aufbringen müssen, um zur Königin vorzudringen, ohne von Feen oder Alben bemerkt zu werden — aber sobald sie das geschafft hätten, konnte Carven sie zum Kampf fordern und ihr den Bannzauber abnehmen. Dann würde er die Feen mit der Macht des Schwertes in ihre Welt zurücktreiben — und Mia höchstpersönlich würde die Alben mithilfe des Bannzaubers in die Verbannung zurückschicken, aus der sie gekommen waren. Sie lächelte, als sie an Alvarhas' Gesicht dachte. Ja, sie würde ihn in das Nichts zurückstoßen, mit dem er sie ersticken wollte.
In diesem Moment betraten zwei junge Mädchen die Brücke. Sie gingen untergehakt und unterhielten sich so angeregt, dass sie nicht einmal einen Blick für Theryon hatten, der regungslos über den Fluss schaute.
»... wie aus einem Märchen«, hörte Mia die Stimme des einen Mädchens. »Ich habe die Fotos in der Zeitung gesehen, auf Tara stehen auf einmal uralte Eichen und Pflanzen von der Art, wie sie jetzt überall zu finden sind. Und das Schloss ist riesengroß und von so einer merkwürdigen Hülle aus Licht umgeben.«
»Davon habe ich auch gehört«, sagte die andere aufgeregt. »Mein Bruder hat erzählt, dass sich das Licht ganz kalt anfühlen soll und hart — wie eine Wand aus Glas oder Eis.«
Mia unterdrückte ein Lächeln. Die beiden sprachen eindeutig von Fynturil und dem magischen Bann, den Theryon um das Schloss gelegt hatte.
»Und hast du von der Stadt gehört, die sich im Boyne-Tal errichtet?«, fragte wieder das erste Mädchen, als sie Mias Höhe erreichten. »Dort sollen Gebäude aus schwarzem Kristall entstehen, fremdartige Tempel und ...«
Da lachte das andere Mädchen auf. »Ich wette, die drehen hier einen Film, von dem niemand wissen darf — stell dir nur mal vor, vielleicht begegnen wir heute Nacht noch einem Star!«
Die beiden brachen in Gelächter aus, und Mia konnte sich eines breiten Grinsens nicht enthalten. Sie wusste, dass die Mädchen von der Tempelstadt Alfrhandhar sprachen, von der Theryon ihr schon viel erzählt hatte und die unter dem Einfluss der Feenmagie nun zu alter Stärke zurückkehrte. Aber vor nicht allzu langer Zeit hätte sie womöglich genau dieselben Gedanken gehabt wie die beiden Mädchen angesichts der merkwürdigen Vorkommnisse. Sie dachte an die Wandlung, die die
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