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Grim - Das Erbe des Lichts

Grim - Das Erbe des Lichts

Titel: Grim - Das Erbe des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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schoben. Rote Nebel waberten über das Deck und aus den Ruderlöchern und bildeten ein Nebelmeer rings um das Schiff, das dessen Erscheinung noch geisterhafter machte. Und vorn, beide Hände auf die Reling gelegt, stand die Schneekönigin.
    Mia wusste nicht, wie lange sie fassungslos dagestanden hatte, bis das Schiff schließlich neben Alvarhas stehen blieb, der sich mit geschmeidiger Bewegung an Deck schwang. Beinahe zärtlich strich die Königin über das Geländer und lächelte, als das Gold an ihren Fingern haften blieb und darunter Fleisch sichtbar wurde — Fleisch und Knochen.
    Mia sog die Luft ein, doch wie die anderen wandte auch sie sich nicht ab. Die Königin lächelte auf die Alben hinunter, während sie langsam das Gold von ihren Fingern leckte, griff dann in ihre Tasche und zog etwas daraus hervor, das Mia erst erkannte, als sich das Licht des Himmels darin spiegelte: Es war eine Scherbe in der Größe einer menschlichen Faust — eine Scherbe aus Eis. Unwillkürlich fuhr Mia sich mit der Hand an die Brust. Da drang ein Ton aus der Scherbe. Die Königin verzog das Gesicht, als würde sie einem besonders gelungenen Musikstück lauschen. Mia hingegen hörte ihre wispernden Lockrufe, die wie Goldstaub aus der Scherbe niederfielen und sich unwiderstehlich auf die Häuser der Menschen legten. Ein Ruck ging durch die Reihen der Alben, als die ersten Schreie aus den Straßen erklangen. Fenster öffneten sich, und heraus traten Kinder — die Kinder der Menschen. Regungslos schwebten sie hinauf zum Schiff, den Blick fest auf die Königin gerichtet, die sie gerufen hatte.
    »Sie werden sie nicht töten, oder doch?«, flüsterte Carven, der in diesem Moment neben Mia trat, und sie erinnerte sich daran, was Theryon beim roten Kristall gesagt hatte:
Die Königin verabscheut Menschenkinder schon seit langer Zeit. Was auch immer sie mit ihnen vorhat, wird schlimmer sein als der Tod.
    Sie wollte Carven ansehen, dessen Stimme so verzweifelt geklungen hatte, doch sie konnte sich nicht von dem Bild abwenden, das sich ihr bot. Carven war in Sicherheit, und doch war er vor Mias geistigem Auge in diesem Moment unter den Kindern dort draußen. Sie flogen auf das Schiff zu, einige langsam, andere schneller, doch alle mit diesem entsetzten, hilflosen Blick, diesem stummen Schrei, der Mia das Blut aus dem Kopf zog.
    Die Schneekönigin schaute ihnen mit unverhohlener Gier entgegen. Mia hörte die Rufe der Eltern, die verzweifelt nach ihren Kindern griffen und sie festhalten wollten. Doch da zog sich ein goldener Glanz über die Kinderkörper, die Eltern verbrannten sich die Hände bis auf die Knochen, vereinzelt meinte Mia zu hören, wie die Gelenke ihrer Finger barsten, als sie dennoch versuchten, ihre Kinder zu halten. Verzweifelt brachen die Menschen auf den Straßen zusammen, ihre Schreie waren so haltlos, dass Mia sie kaum ertrug.
    In goldenen Strömen glitten die Kinder der Menschen auf das Schiff zu, bald standen sie wie Puppen aus Wachs auf dem Deck. Mia hörte die Schreie, die in ihren verschlossenen Mündern widerhallten, und fühlte sich bis ins Mark von ihnen erschüttert. Diese Kinder, das spürte sie plötzlich, waren ein Schatz, der kostbarer war als alles, was Anderwesen und Menschen sonst als wertvoll erachteten. Dort auf dem Schiff der Schneekönigin stand die Hoffnung der Welt. Mia hielt den Atem an, so fremd erschien ihr dieser Gedanke. Noch nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches empfunden.
    Da setzte das Schiff sich in Bewegung, langsam glitt es auf die Dächer der Stadt hinab und blieb dicht über den Bäumen des St. Stephen's Green in der Luft stehen. Viele der Alben erhoben sich von den Dächern und überschwemmten den Park mit ihren dunklen Leibern, andere verharrten regungslos auf den Häusern und sahen zu, wie weitere Kinder auf das Schiff zuströmten.
    Theryon fuhr sich mit der Hand über die Augen. Erstmals sah Mia diese Geste bei ihm, dieses Zeichen der Hilflosigkeit und des Schmerzes. »Die Königin hat die Alben nicht ohne Grund gerufen«, flüsterte er kaum hörbar. »Sie haben meinen Bannzauber gebrochen — sie haben die Königin und ihre Schergen befreit. Und nun werden sie ihr beistehen bei all ihren weiteren Plänen.«
    Grim sog neben Mia die Luft ein, sie wusste, dass er dasselbe empfand wie sie. Sein Zorn war wie ein brennendes Tuch auf ihrer Haut. Er ballte die Faust und trat plötzlich einen Schritt auf das Fenster zu, als wollte er sich hinausstürzen. Mia griff nach seinem Arm und zog

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