Grim - Das Erbe des Lichts
letzten Schritt auf Carven zu und streckte die Hand nach dem Schwert aus, das er noch immer in der Hand hielt. Grim rechnete fest damit, dass sein Körper zu Asche zerfallen würde bei ihrer Berührung, doch gerade als die Königin die Waffe fast erreicht hatte, lächelte der Junge.
Wie erstarrt blieb die Königin stehen. Grim hörte einen erstickten Laut aus Hortensius' Kehle, er selbst sog so heftig die Luft ein, dass er meinte, seine Brust müsste zerspringen. Carven — er lebte. Und er wandte den Kopf der Königin zu, ohne die Augen zu öffnen, aber mit diesem rätselhaften Lächeln auf den Lippen, das Grim wie ein weißer Flügel über die Wange strich.
»Ich sehe keine Schatten«, flüsterte Carven leise. »Das, was ich sehe — ist das Licht!«
Mit diesen Worten stieß er das Schwert vor. In letzter Sekunde sprang die Königin zurück und entkam seinem Hieb, doch gleich darauf entließ Carven den Zauber Bromdurs.
Auf der Stelle schossen Gestalten aus seiner Klinge, Grim sah hassverzerrte Gesichter von Zwergen und Feen, Krieger aus lang vergangener Zeit, Gefallene mit herausgerissenen Gliedmaßen und blutenden Wunden, und sie stürzten der Königin nach, die in rasender Geschwindigkeit vor ihnen floh. Heftig keuchend strauchelte sie und schlug der Länge nach auf dem Deck auf. Sie warf sich auf den Rücken und kroch vor den Geistern zurück, die über die Dielen auf sie zustoben. Jeden Augenblick hatten die einstigen Krieger sie erreicht, dann würden sie ...
»Halt!«
Grim fuhr so heftig zusammen, dass sich die Zauber tief in sein Fleisch schnitten, und doch spürte er den Schmerz kaum. Carven ließ die Geister innehalten, atemlos wandte Grim den Blick in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war — und traute seinen Augen nicht.
Dort, am Bug des Schiffes, stand Alvarhas. Grim sah deutlich die Risse seines Schädels unter der blutenden Haut, sah auch die Brüche in seinen Knochen und roch die zerschmetterten Eingeweide in seinem Inneren. Doch der Alb grinste mit blutigen Lippen, während der graue Nebel ihn wieder zusammenflickte. Er war zurückgekehrt und in seiner Faust hielt er — Hortensius.
Die Bannfesseln um den Leib des Zwergs waren zerrissen. Grim spürte, wie die Magie in Hortensius' Körper zurückkehrte — doch im Griff des Albs würde ihm das überhaupt nichts nutzen.
»Töte die Königin«, zischte Alvarhas mit der brüchigen Stimme eines Toten. »Aber wenn du das tust, wird dein Meister ihr folgen!«
Carven stand da wie vom Donner gerührt. Seine Wangen waren noch gerötet vom Kampf, seine Lippen zitterten, als er die Geister zurückrief. Einige hatten die Königin fast erreicht, ihre Klauen hieben nach ihr aus, aber sie erwischten nichts als einige Strähnen ihres Haares, die in goldenem Licht anfingen zu glühen und dann zu Asche verbrannten. Lautlos glitten die Geister der Gefallenen über das Deck und kehrten zurück in das Schwert Kirgans.
»Kluger Junge«, keuchte die Schneekönigin atemlos, kam auf die Beine und eilte zu Alvarhas. »Und jetzt — komm zu mir! Kein Krieger des Lichts wird jemals wieder die Macht der Feen gefährden, dafür werde ich sorgen! Komm und gib mir das Schwert! Opfere dein Leben für deine Freunde, wie Helden es tun! Ich werde sie gehen lassen, darauf gebe ich dir das Wort meines Volkes — wenn ich dich und dein Schwert dafür bekomme!«
Hortensius zuckte in Alvarhas' Griff zusammen. »Nein, Carven!«, rief er außer sich. »Das darfst du ...«
Doch Alvarhas krallte seine Klauen so heftig in seinen Hals, dass Blut kam, und brachte ihn so zum Schweigen. Grim hatte aufgehört zu atmen. Er sah Carven an, sah seine Brust, die sich keuchend hob und senkte, und seine Augen, in denen sich das Entsetzen zu schwarzen Schatten zusammengezogen hatte. Für einen Moment umfasste der Junge das Schwert fester, Zorn und Verzweiflung wallten in seinem Gesicht auf. Dann setzte er sich in Bewegung. Schritt für Schritt trat er auf die Königin zu. Als er sie fast erreicht hatte, sah er Hortensius an.
»Verzeiht mir«, flüsterte er kaum hörbar, und ließ das Schwert fallen.
Sofort stieß Alvarhas Hortensius von sich, sodass der Zwerg stolperte und der Länge nach zu Boden fiel. Dann sprang der Alb vor und ergriff die Waffe. Gleichzeitig streckte die Schneekönigin die Hand aus, ein heller Blitz schoss aus ihren Fingern und riss Carven zu ihr heran.
Grim fühlte, wie der Bannzauber um seinen Körper erlosch. Seine Magie war versiegt, er würde einige
Weitere Kostenlose Bücher