Grim - Das Erbe des Lichts
Beton. Es schien, als würde die kleinere die größere Pyramide in der Luft halten — ihre Spitzen berührten sich fast. Mia hatte sie fast erreicht, als die Stille sie einholte, jene Stille, die stets nach einem Kampf folgte: die Stille des Siegers. Mia blieb stehen und lauschte. Sie fühlte ihren eigenen Herzschlag, glaubte für einen Moment, die steinernen Pranken der Sphinx zu hören. Doch sie irrte sich.
Schritte.
Schwere, kalte Schritte, die Schritte Alvarhas', kamen durch die Eingangshalle des Louvre direkt auf sie zu. Mit einem Anflug von Verzweiflung fuhr Mia herum. Er hatte die Sphinx von Tanis bezwungen. Das war unmöglich.
Sie hetzte durch die geisterhaft erleuchteten Gänge mit ihren glitzernden Schaufenstern, den angestrahlten Auslagen und den starren, gleichgültigen Schaufensterpuppen. Nichts war zu hören als ihr hektischer Atem und Alvarhas' Schritte. Und dann, als hätte jemand eine Schallplatte aufgelegt, ertönte auf einmal Musik. Es war eine bekannte italienische Oper, doch die Stimme der Sopranistin klang so fremd und durchdringend, dass Mia zusammenfuhr. Sie spürte etwas Heißes in ihrem Rücken, als würde hinter ihr ein Feuer ausbrechen. Für einen Moment durchfuhr sie der Drang, sich umzudrehen, doch sie wusste instinktiv, dass das ihr Ende bedeuten würde. Es war nicht mehr weit bis zum Ausgang, doch noch ehe sie ihn erreicht hatte, traten drei Einäugige vor ihr aus den Gängen. Reglos und mit verschränkten Armen versperrten sie ihr den Weg. Mia bog nach rechts ab. Sie würde sich nicht fangen lassen wie ein Insekt. Sie hatte gerade die Hall Charles V. erreicht mit ihrer geisterhaften Beleuchtung und der alten Stadtmauer, als ein Ton sie innehalten ließ. Es war ein Wort, geflüstert von einer unsagbar zarten Stimme, ein Name, der ihr fremd und gleichzeitig vertraut schien.
Mia,
sagte die Stimme.
Die Hitze in Mias Rücken wurde größer, sie schnitt ihr ins Fleisch — aber sie lief nicht mehr davon. Stattdessen wandte sie sich um, gezogen von der leise lockenden Stimme, und fühlte das goldene Licht auf ihrem Gesicht, das aus dem Gang zur Pyramide fiel. Sie sah die Fremden nicht mehr, die sie mit verschränkten Armen beobachteten, sie hörte auch die Musik nicht oder ihren eigenen Schrei, als sie verzweifelt versuchte, sich selbst zum Umkehren zu bewegen. Atemlos bog sie um die Ecke und wurde ihm nächsten Augenblick von goldenem Licht geflutet. Sie sah kaum, wohin sie ging, während die Stimme sie vorwärts zog, diese betörende, wispernde Stimme. Der Glanz der Pyramide wirkte schwarz, als Mia das Licht sah, das zwischen den Spitzen der beiden Pyramiden in der Luft schwebte. Es war eine strahlend helle Flamme, die sie zu sich rief und die jede Gegenwehr, jede Furcht im Keim erstickte. Mia wusste, dass sie sterben würde, wenn sie dieses Licht berührte — dieses Licht, das sie schon einmal gesehen hatte, damals in der Engelsburg in Rom, und dem sie schon einmal fast verfallen wäre. Noch konnte sie fliehen. Noch konnte sie sich abwenden, sich von der Stimme befreien und davonlaufen.
Sie trat den letzten Schritt auf die Pyramide zu. Das Licht der Flamme brannte in eisigen Schleiern auf ihrer Haut. Kurz meinte sie, das Gesicht einer Frau in ihm zu erkennen — ein ebenmäßiges, schneeweißes Gesicht mit tiefen, nachtschwarzen Augen. Die Frau schaute sie an, sie lächelte, als Mia die Hand nach ihr ausstreckte. Doch da schrie etwas in Mia auf, sie spürte einen Stich in ihrem Finger. Eine Erinnerung flog sie an, sie sah das Bild eines sterbenden Anderwesens mit zarten, durchscheinenden Flügeln. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Für einen Moment verstummte die Stimme, und die gerade noch sanften Augen der Frau wurden schwarz — schwarz wie Hass. Mia wich vor ihr zurück. Sie hatte sich verzaubern lassen, sie musste fliehen, jetzt gleich. Panisch fuhr sie herum — und schaute in das Gesicht von Alvarhas.
Er hatte sie gefunden.
Ehe sie etwas hätte tun können, packte er ihren Arm und drehte sie mit dem Rücken zu sich, sodass sie die Flamme ansehen musste. Dann legte er seine Hände auf ihre Schultern. Eisige Kälte strömte durch Mias Körper und lähmte jede ihrer Bewegungen. Verzweifelt versuchte sie, ihre Magie zu sammeln, doch Alvarhas ließ ihr keine Zeit. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, hörte die Worte, die er flüsterte, und sah das gleißende Licht der Flamme und die schwarzen Augen der Frau. Alvarhas' Hand glitt zu ihrem Hals, er zwang sie, ihn
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