Grim - Das Erbe des Lichts
Der Knauf war reich verziert und zeigte unter anderem ein Motiv, das in der vorderasiatischen Kunst dieser Epoche häufig auftauchte und in der Wissenschaft als
Herr der Tiere
bezeichnet wurde: Ein nach links blickender Mann ergriff zwei außergewöhnlich große, auf den Hinterbeinen stehende Löwen. Dieser Mann, das wusste Mia, war kein Mensch. In den Sagen der Anderwelt existierten unzählige Geschichten über den Herrn der Tiere, einen sagenhaften Krieger, der mit Tieren sprechen und ungeahnte Kräfte in ihnen erwecken konnte, und obwohl mehrere Völker ihn für sich beanspruchten, war es bislang nicht gelungen, seine Identität zu klären. Fest stand jedoch, dass er vor langer Zeit von einem großen Feuer verzehrt worden war und seine Kräfte zuvor in mehrere seiner damaligen Besitztümer gelegt hatte — unter anderem in dieses Messer, das sich seither mit grenzenlosem Hass auf jede Art von Feuer stürzte.
Mia duckte sich unter Alvarhas' Donnerschlag, der die Vitrine über ihr in tausend Scherben zerschmetterte, und hielt sich die Klinge aus gelblichem Feuerstein dicht vor den Mund.
»Nefr«, flüsterte sie, während sie in geduckter Haltung auf die Treppe zurannte. Schon erhoben sich erneut die grauen Flammen, doch dieses Mal verlangsamte Mia ihren Lauf nicht. »Afrar!«, schrie sie, riss das Messer in die Höhe und schlug es von oben nach unten durch die Flammen, die auseinanderglitten wie ein Riss in einer Leinwand.
Mia stürzte hindurch, das Messer in ihrer Hand verfärbte sich schwarz und wurde so heiß, dass es ihr aus den Fingern glitt. Ein wütender Schrei zerfetzte die Luft, als sie die Treppe hinabrannte. Sarkophage, Mumien und Totenbücher empfingen sie in der sakralen Sphäre der Ägyptenausstellung des Erdgeschosses. Hinter ihr stürzte etwas die Treppe hinab. Mia meinte, ein tiefes Grollen zu hören, dicht gefolgt von scharfen Klauen auf Stein. Sie warf einen Blick zurück, Schatten wirbelten dort, wo Alvarhas die Treppe herunterkam. Schnell wandte Mia sich um, rannte an Statuen der ägyptischen Götter vorbei — und hörte das Dröhnen der Feuerkugel, die hinter ihr die Luft zerriss. Mit einem Schrei stürzte sie eine Treppe hinab, stolperte auf den letzten Stufen und landete auf dem Boden. Sie schlug sich den Kopf an, doch die Feuerkugel schoss über sie hinweg — sie konnte die Hitze der Flammen an ihrem Rücken spüren — und schlug krachend gegen die große Sphinx von Tanis.
Für einen Augenblick konnte Mia sich nicht mehr bewegen. Sie hörte, wie die Sphinx aus ihrer Starre erwachte, sah die Augen, die sich aus reglosem Stein in glühende Kohlen verwandelten, und vernahm das tiefe, wütende Grollen, das ihrer Kehle entkroch.
Atemlos kam Mia auf die Beine. Sie hörte, wie Alvarhas hinter ihr die Treppe hinabstieg, doch sie konnte sich nicht rühren. Der Blick der Sphinx brannte sich in ihr Gehirn, er ließ nichts in ihr ganz, keinen Gedanken, kein Gefühl, keine Erinnerung. Sie musste sich von dieser Umklammerung befreien, die schlimmer war als jede Art von Tod, und gleichzeitig wollte sie sich diesem Wesen zu Füßen werfen, das sie mit grausam glühenden Augen ansah. Mia wusste, dass ihr Kampf beendet war. Vor ihr die Sphinx von Tanis, hinter ihr Alvarhas, der bereits den nächsten Zauber sprach, um sie zu vernichten, und er ... Sie kam nicht dazu, ihren Gedanken fortzuführen. Plötzlich hob die Sphinx den Blick und entließ Mia aus ihrer unsichtbaren Umarmung. Stattdessen fixierte sie Alvarhas.
Mia taumelte beiseite und setzte sich in Bewegung. Sie rannte durch den mittelalterlichen Louvre, vorbei an den freigelegten Grundfesten, den Überresten der Stadtmauern und dem Sockel des mächtigen Donjon. Hinter sich hörte sie ein durchdringendes Fauchen, das ihr die Nackenhaare aufstellte, und Alvarhas, der in fremder Sprache Zauber brüllte. Sie erreichte die Hall Napoleon, warf einen Blick auf den Raum ihrer Ausstellung, der von dem magischen Sicherheitsschutz verschlossen wurde, den die überlebenden Schattenflügler nach ihrem Hilferuf aktiviert hatten, und steuerte auf die gläsernen Türen zu, die zum Carrousel du Louvre führten — der unterirdischen Einkaufspassage. Schnell legte sie ihre Hand gegen das Schloss, murmelte einen Zauber und öffnete die Türen. Rechts und links von ihr lagen beleuchtete Schaufenster, und am Ende des Tunnels glühte die Pyramide Inversée — die umgedrehte Pyramide — in ihrem kühlen Sternenlicht. Unter ihr erhob sich eine kleinere Pyramide aus
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