Grim - Das Erbe des Lichts
anzusehen, und sie erschrak vor der Kälte in seinen Augen und diesem durchdringenden, unstillbaren Verlangen nach etwas, das sie nicht benennen konnte. Sein Mund öffnete sich, doch statt Worten kam Nebel über seine Lippen, kühler, grauer Nebel. Mia spürte, wie der Nebel an ihrem Mund entlangstrich, sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass er ihren Rachen hinabglitt. Schwarze Schleier zogen an ihren Augen vorüber, sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben, doch Alvarhas ließ sie nicht los. Sie zwang sich, die Augen offen zu halten. Sie musste ihre Magie sammeln, verflucht noch mal, sie würde sich nicht umbringen lassen, als wäre sie ein schwaches armseliges Tier.
Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf das Meer in ihrem Inneren und starrte ihrem Feind in sein gesundes Auge, während sie einen Zauber in ihren Arm strömen ließ, der nach seiner Vollendung mächtig genug sein würde, um Alvarhas in eine Eisskulptur zu verwandeln. Schon spürte sie, wie ihre Finger kribbelten, während ihr Körper reglos in Alvarhas' Armen hing, und sie wollte gerade den Zauber über die Lippen bringen, als sie Alvarhas' Stimme hörte — eine zarte, sanfte Stimme ohne Hass und Gier, eine Stimme, die Sehnsucht kannte und Leid und Liebe. Verwunderung überkam Mia, und sie sah, wie sich dieses Gefühl auf Alvarhas übertrug. Da brach die Stimme ab, und ein Schmerz zerriss Mias Brust, sodass sie aufschrie. Noch nie hatte sie etwas Ähnliches gefühlt, es war, als wühlte sich eine Speerspitze aus eisigen Flammen durch ihr Fleisch. Fast besinnungslos vor Schmerz sah sie Alvarhas an, dunkle Schleier umtosten sein Gesicht. Sie spürte, dass sie ohnmächtig wurde. Alvarhas' Macht durchströmte sie wie ein Fluss aus Feuer und Eis. Die Kraft ihres eigenen Zaubers war geradezu jämmerlich dagegen, sie fühlte ihn kaum noch in ihren Fingern. Es war sinnlos, das wusste sie, und für einen Moment wollte sie nichts weiter als die Augen schließen und sich von der Dunkelheit ihres Feindes davontragen lassen. Doch gleich darauf hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, eine Stimme aus Wärme und Kraft:
Ich will nie wieder hören, dass du nicht an dich glaubst.
Grim. Mit einem Schlag kehrte das Kribbeln in ihre Finger zurück, sie zog den Arm in die Höhe und schrie ihren Zauber, so laut, dass er jeden Schleier und jede Dunkelheit um sie herum in Fetzen riss. Kalt glühend schossen magische Schlangen aus ihrer Hand, zischend stürzten sie sich auf Alvarhas, dicht gefolgt von einer gewaltigen Explosion, die die Schaufenster der Passage zum Bersten brachte.
Mia zögerte nicht. So schnell sie konnte, warf sie sich herum und jagte durch die herumfliegenden Glassplitter zum Ausgang. Sie hörte Stimmen hinter sich, noch einmal schleuderte sie einen Zauber in die Richtung ihrer Verfolger und brachte Teile der Decke zum Einsturz. Dann rannte sie die Treppen nach oben, umgab sich mit einem Schutzzauber und sprang durch die gläserne Tür der Einkaufspassage in die Nacht.
Kapitel 9
ie Dunkelheit drängte sich mit drückender Schwere um das schwache Licht, das Grim in seiner Klaue entfacht hatte.
Lyskian ging dicht hinter ihm, während Remis auf seiner Schulter hockte und sich angestrengt um eine ruhige Atmung bemühte. Grim konnte die Empfindungen des Kobolds nachfühlen.
Nicht nur, dass sie sich unaufhaltsam den Mördern der Menschen näherten, deren Stimmen vom Ende des Ganges immer lauter zu ihnen drangen. Noch dazu senkte sich die Decke des Tunnels, der sich mit holprigem Grund tiefer ins Erdinnere hinabwand, mit jedem Schritt stärker dem Boden entgegen und weckte Beklemmungsgefühle in Grim, von denen er bislang selten heimgesucht worden war.
Er bemühte sich, weder Wände noch Decke zu berühren, aber er musste geduckt gehen und konnte nicht verhindern, dass er ein paarmal mit den Schwingen gegen die rauen Wände stieß. Verdammte Enge, verdammte Dunkelheit — er war ein Kind des Feuers, kein Kind der Erde, verflucht noch eins! Dabei hatte er schon zahlreiche unterirdische Korridore durchschritten, angefangen bei den Katakomben von Rom über jene in Paris und zahlreichen anderen Städten bis hin zur Kanalisation Ghrogonias. Aber dieser Tunnel war von Vampiren aus dem Fels geschlagen worden — der Teufel wusste, vor wie vielen Jahrhunderten, und eines war sicher: Menschenblut klebte an diesen Wänden, das älter war als Grim selbst. Nicht einmal Lyskian hatte von diesem Tunnel gewusst, wer konnte sagen, wohin er sie führen würde? Zu den
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