Grim - Das Erbe des Lichts
seinen Nacken legte und mit der linken dreimal über jedes seiner Augenlider strich. Dann drehte er Grims Kopf in Richtung des weißen Throns.
Die Umrisse der Höhle waren verwischt und unklar, als würde Grim sie durch dicke Glaswände betrachten, doch stattdessen erblickte er dort, wo die Alben verschwunden waren, blau glitzernde Tunnel, die sich plötzlich in der Mitte der Höhle erstreckten und sich an den Enden in grauem Licht verloren. Grim sah die Alben, die sich dunkel wie Scherenschnitte hindurchbewegten, während das Wasser der Wände um sie herum pulsierte. Schließlich verschwanden sie im Licht am Ende der Tunnel, aus dem Stimmen an Grims Ohr drangen — Stimmen angefüllt mit drängender, betörender Dämmerung. Der Schreck ließ Grim den Atem anhalten. Er kannte diese Stimmen, er wusste, woher sie kamen. Die Alben durchwanderten die Zwischenwelt. Doch wohin wollten sie? Angespannt wartete er, bis der Redner als Erster in seinen Tunnel zurückkehrte. Der Alb trug ein Wesen auf seinen Armen — es war eine Frau. Ihr schlanker Körper war in ein schneeweißes Kleid gehüllt, und sie hatte knöchellange weiße Haare. Ihre Hände steckten in Handschuhen, ein undurchsichtiger Schleier aus Nebel verbarg ihr Gesicht. Lautlos trat der Alb aus dem Tunnel.
Grim fühlte, wie Lyskian über seine Lider strich, und öffnete die Augen. Die Tunnel waren verschwunden, stattdessen sah er, wie der Alb die Frau absetzte und sie mit fließenden Bewegungen auf dem weißen Thron Platz nahm. Sie saß regungslos, während die anderen Alben zurückkehrten — auch sie trugen Wesen auf ihren Armen, die ihre Gesichter mit zarten Tüchern verhüllt hatten, doch Grim konnte sich nicht von der Frau auf dem Thron abwenden. Ihr Kleid umfloss ihren Körper wie ein Geflecht aus Sonnenstrahlen eine Eisskulptur, und ihre gerade, anmutige Haltung wirkte wie das stille Abwarten einer Sphinx oder einer Göttin. Für einen Moment meinte er, einen Schatten hinter dem Schleier vor ihrem Gesicht zu erkennen, doch ebenso hätte es ein Spiel der Flammen sein können, die ihren rötlichen Schein auf das weiße Gewand warfen.
Angespannt wandte Grim sich ab und sah zu, wie die Alben die Geschöpfe in der Höhle absetzten und diese sich um den Thron der Frau versammelten. Das alles geschah schweigend. Grim ließ den Blick über die Reihen der weiß gekleideten Fremden gleiten. Die Alben hatten die Zwischenwelt durchwandert, um diese Wesen in die Welt der Menschen zu bringen — doch wer waren sie?
Als hätte sie seine Frage gehört, erhob sich die Frau auf dem Thron. Für einen Augenblick stand sie regungslos und bewegte den Kopf, als würde sie durch die Reihen derer schauen, die sie und ihre Gefährten durch die Zwischenwelt getragen hatten. Dann streckte sie die linke Hand aus. Sofort sprang einer der Alben vor, verneigte sich und streifte ihr den Handschuh von den Fingern. Grim hielt die Luft an. Noch nie zuvor hatte er solche Hände gesehen. Sie waren weiß wie frisch gefallener Schnee und so zart, dass jedes Blütenblatt neben ihnen ausgesehen hätte wie Schmirgelpapier. Lange, spitze Fingernägel schimmerten im Schein der Flammen wie gehärtetes Eis. Die Frau spreizte die Finger und rief mit heller, klarer Stimme: »Ferengar!« Augenblicklich schossen Eiskristalle aus ihrer Hand. Sie bildeten in rasender Geschwindigkeit ein Geflecht aus funkelnden Eisblumen, das auf die Reihen der Alben zusteuerte. Reglos standen sie da, als sich Raureif über ihre Körper legte und die Eisblumen auf ihre Münder zukrochen. Zitternd ertrugen sie die Prüfung, der sie offensichtlich unterzogen wurden, bis die Frau schweigend die Hand sinken ließ. Sofort zerbarsten die Eisblumen in der Luft, und der Raureif bröckelte von den schwarzledernen Uniformen der Alben.
Die Frau wandte sich halb zu ihren Gefährten um, kaum merklich nickte sie. Und als hätte diese Geste den Befehl dazu gegeben, lösten sich die Schleier um die Gesichter. Schicht um Schicht verschwand der Nebel vor dem Antlitz der Frau. Grim erahnte ein schmales, bleiches Gesicht hinter dem letzten Schleier, ein Gesicht, dessen Haut so dünn war, dass man die blauen Äderchen darunter sehen konnte. Er meinte Lippen zu erkennen, die von glitzerndem Eis überzogen waren, und eine wohlgeformte Nase. Dann zog sich der Nebel zurück — und alles, was Grim sah, waren die Augen der Fremden. Zuerst dachte er, sie wären schwarz, doch dann sah er, dass sie tiefblau waren wie der Nachthimmel im Winter, und
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