Grim - Das Erbe des Lichts
Schattenalben brachte er sie, das war Grim klar, jenen Kreaturen, die er bislang für Legenden gehalten hatte, für Gestalten aus Schauermärchen, die sich die Elfen in ihren Wäldern erzählten und die in zahlreichen Dämonenflüchen ihren festen Platz hatten. Nie hätte er geglaubt, dass es solche Wesen tatsächlich gab — Geschöpfe, deren Atem das Blut Sterblicher zum Erstarren bringen und Anderwesen in einen lähmenden Kälteschlaf versetzen konnte, Kreaturen der Verdammnis, die nur einen Lebenssinn anerkannten: anderen den Tod zu bringen.
Mit düsterer Miene dachte Grim an den Einäugigen, jenen Alb, den er noch vor Kurzem für den einzigen Mörder gehalten hatte. Wieder hörte er sein höhnisches Lachen, sah diesen kalten, berechnenden Ausdruck auf seinen Lippen und fühlte seinen Blick, schwarz und lodernd wie ein verfluchtes Feuer. Er war ein Krieger und ein Jäger, das hatte Grim vom ersten Augenblick an gefühlt. Dieser Alb war nicht grundlos in die Welt der Menschen gekommen. Jemand hatte ihn gerufen — doch warum? Und wer war wahnsinnig genug, ein Wesen wie ihn — einen Verbannten mit dem schwarzen Blut der Schattenalben in den Adern — in die Welt zurückzuholen?
Remis sog auf seiner Schulter die Luft ein, und dann sah Grim ihn auch: einen hellen, roten Kranz aus Lichtstrahlen, der das Ende des Tunnels anzeigte. Lyskian folgte ihnen vollkommen lautlos, als sie sich näher heranschlichen. Hätte Grim nicht die Kälte gespürt, die vom Körper des Vampirs ausströmte, hätte er nicht gewusst, ob dieser überhaupt noch da war. Vorsichtig schob er sich in den Lichtkreis und spähte aus der Öffnung des Tunnels in eine große, von Tropfsteinsäulen durchsetzte Höhle, deren Geröll wenige Schritte von ihm entfernt einen kleinen Hügel bildete. Hinter diesem flackerten die Lichter eines Feuers. Der Fels schimmerte in feuchtem Schwarz, während die Stalaktiten, die nadeldünn von der Decke hingen, rot waren wie erstarrtes Blut. Vereinzelt hörte Grim das Tropfen von Wasser — und Stimmen hinter dem Hügel.
Lautlos trat er mit Remis aus dem Tunnel, dicht gefolgt von Lyskian. Sie schlichen sich ein Stück weit den Hügel hinauf, bis sie zwischen einem zerbrochenen Stalagmiten in die von flackerndem roten Feuer erleuchtete Höhle blicken konnten. Grim hielt den Atem an. In einiger Entfernung standen mindestens hundert Schattenalben — jedem einzelnen fehlte das linke Auge. Sie trugen schwarze Uniformen aus mattem Leder und hatten sich um einen gewaltigen, schneeweißen Tropfstein versammelt, der die Form eines Throns mit spitzen Dornen hatte. Auf dem Platz vor dem Thron stand ein Alb und sprach in einer für Grim fremden Sprache zu den anderen. Angespannt ließ Grim den Blick durch die Reihen gleiten, doch den Mörder fand er nicht. Wo zum Teufel war der Fremde?
Da breitete der Alb in der Mitte der Höhle die Arme aus, zeichnete mit langsamer Bewegung einen Kreis senkrecht in die Luft und murmelte einen Zauber. Die Luft innerhalb des Kreises verwandelte sich in eine Fläche aus Wasser, die sich unter der Berührung durch den Alb nach oben und unten hin ausdehnte, bis sie etwa so groß war wie ein ausgewachsener Mann. Noch einmal hob der Alb die Hände, als forderte er seine Zuhörer auf, es ihm gleichzutun. Dann trat er vor und verschwand durch die Wand aus Wasser. Kaum hatte er das getan, schufen auch seine Zuhörer Portale vor sich und schritten ebenfalls hindurch.
Grim zog die Brauen zusammen. Was zur Hölle ging hier vor? Er warf Lyskian einen Blick zu, doch es gelang ihm nicht, in der Miene des Vampirs zu lesen. Nur ein schwarzes Flackern lag in Lyskians Augen, eine seltene und daher umso erschreckendere Unruhe. Gerade wollte Grim sich zu ihm hinüberbeugen, als Lyskian zwei Finger seiner linken Hand auf Grims Stirn legte.
Sie wirken einen alten Dämonenzauber,
hörte Grim die Stimme des Vampirs in seinem Kopf.
Wenn du wissen willst, wo sie sind, schließe deine Augen.
Grim zögerte einen Moment. Er wusste, dass es immer ein Risiko war, einem Vampir zu vertrauen. Sie folgten bisweilen Regeln, die für jemanden, der nicht untot war, schwer zu begreifen waren, und ganz gleich, wie zugetan ein Blutsauger ihm sein mochte — letztlich galt für Vampire nur ein Gesetz: ihr eigenes. Grim holte tief Atem. Lyskian war sein Freund. Er warf Remis einen Blick zu, der auf einen Steinhaufen geflogen war und ängstlich zu ihm aufsah. Dann schloss er die Augen. Er fühlte, wie Lyskian seine rechte Hand in
Weitere Kostenlose Bücher