Grim - Das Erbe des Lichts
gelächelt. Noch immer verfolgte dieses Lächeln sie in ihren Träumen, dieses schelmische und gleichzeitig verzweifelte Lächeln, das eine deutlichere Antwort war als jedes seiner Worte.
Alles ist möglich,
hatte er erwidert und damit ihren Vater zitiert.
Eines Tages.
Seither hatte Mia nichts mehr von ihm gehört.
Sie betrachtete die zarten Umrisse seines Gesichts, das wirre Haar und die Augen, in denen sich die Schatten der Nacht gesammelt hatten. Mia hatte mit Grims Hilfe den besten Bildhauer Ghrogonias damit beauftragt, das Gesicht ihres Bruders nachzubilden, und er hatte sich selbst übertroffen. Oft schien es ihr, als würde die Büste die Lippen bewegen, als würde sie lächeln, und manchmal meinte sie, Jakobs Lachen zu hören. Sie setzte den Stift an und begann mit der Zeichnung, ohne Jakobs Abbild aus den Augen zu lassen. Es war, als flössen die Schatten aus seinem Blick über ihre Hand auf das Papier, und seine Stimme klang in ihrem Kopf wider:
Das Mittel der Hartide, Mia, ist die Kunst. Nichts setzt die Ignoranz so schnell schachmatt wie ein Flug über den eigenen Horizont — und ebendiesen bietet die Phantasie, die Basis aller Kreativität, die Grundlage der Freiheit. Doch für diesen Flug müssen die Menschen die Phantasie in ihr Herz lassen. Dann kann die Kunst sie verwandeln — für eine Welt, die versteckt vor ihren Augen existiert. Die Kunst weckt und lässt träumen. Und auf ihren Träumen werden die Menschen zurückfinden in die Anderwelt, die immer ein Teil von ihnen war.
Mia hörte auf die Striche ihres Bleistifts und nickte kaum merklich. Mit Jakobs Verschwinden war sie die einzige bekannte Hartidin geworden. Nun war es ihre Aufgabe, die Menschen an die Anderwelt heranzuführen, wenn sie der Erfüllung ihres Traumes — dem Traum Jakobs und ihres Vaters — jemals nahe kommen wollte: den Zauber des Vergessens zu brechen, der über der Welt der Menschen lag und die Anderwelt und ihre Geschöpfe vor ihnen verbarg und entstellte. Eines Tages, das hoffte Mia, würden die Menschen fähig sein, in Frieden mit den Anderwesen zu leben — und sie würde ihren Teil dazu beitragen.
Mit der Unterstützung von Lyskian, dem Prinzen der Vampire von Paris, bereitete sie eine Ausstellung anderweltlicher Artefakte im Louvre vor. Offiziell stammten die Kunstgegenstände aus einer Sammlung Lyskians, der unter den Menschen der Stadt als großzügiger und steinreicher Kunstsammler bekannt war. Doch in Wahrheit kamen sie aus der Anderwelt und vor allem aus Ghrogonia — jener Stadt, die weit unter den Gassen von Paris lag, ohne dass die Menschen etwas von ihr ahnten. Doch es war schwer, sich dem Zauber der anderweltlichen und zum Teil magischen Artefakte zu entziehen, selbst wenn man ihre Wunder nicht vollends begreifen konnte. Sie hatten eine eigene Sprache, die nicht hörbar, nur fühlbar war und die den Menschen ohne ein Wort sagen konnte, was Wahrheit war und was nicht. Mit all ihrer Poesie würden sie die Menschen an die verlorene Welt erinnern wie an einen vergessenen Traum und vielleicht eine Sehnsucht in ihnen wecken, die eines Tages über alle Grenzen hinweg eine geeinte Welt ermöglichen würde.
Mia spürte die Euphorie, die sie bei diesem Gedanken wie eine mächtige Welle emporhob. Doch gleichzeitig lauerte ein boshaftes Gift in den Schatten ihrer Gedanken, ein Untier namens Zweifel, das ihr lähmende Worte ins Ohr flüsterte, Worte, die ihr die Kraft nahmen. Es gab unter den Anderwesen Ghrogonias nicht wenige kritische Stimmen, wenn es darum ging, die Menschen langsam an die Anderwelt heranzuführen, und nicht immer fiel es Mia leicht, sich gegen sie zu behaupten. Insbesondere die konservativen Gargoyles, die trotz der Öffnung des Senats für sämtliche Anderwesen im vergangenen Winter noch immer einen großen Teil der Senatoren stellten, zweifelten an den Menschen. Wiederholt hatten sie Anträge im Senat eingebracht, um die geplante Ausstellung zu verhindern, und auch wenn Mourier, der König, sie immer wieder abgeschmettert hatte, begegneten diese Gargoyles Mia weiterhin mit offenem Misstrauen. Mia konnte es ihnen nicht verdenken. Sie war nun einmal ein Mensch, sie wusste, was ihr Volk der Anderwelt in vergangenen Zeiten angetan hatte, und immer wieder zweifelte sie selbst daran, ob es richtig war, was sie tat. Dennoch fuhren die argwöhnischen Blicke ihr wie Nadeln unter die Haut, und eines war sicher: Nicht nur die Menschen mussten für eine geeinte Welt verändert werden, nicht nur sie standen
Weitere Kostenlose Bücher