Grim - Das Siegel des Feuers
die Straße, gab dem Lumpensammler ein Bündel Papier und erhielt dafür zwei funkelnde Kristalle. Mit angezogenen Schultern trat er zurück ins Haus, und augenblicklich setzte sich die Tür hinter ihm wieder zusammen.
Mia musste lächeln. Trotz der Magie, die in dieser Stadt so viel ermöglichte, schien niemand auf die Idee zu kommen, den Lumpensammler wegzurationalisieren. Er gehörte hierher wie die glänzenden schwarzen Häuser oder die kristallenen Fabrikschlote ganz in der Nähe, in denen sich goldene, rote und grüne Schleier hin und her wälzten, die als dünner Nebel aus den Schornsteinen entlassen wurden. Geisterhaft zog er über die Häuserdächer hin. Rostbraune Leitungen liefen über das Pflaster der Straße, die offensichtlich ähnliche Nebel transportierten, denn Mia sah immer wieder farbige Schleier, die aus undichten Nähten der Rohre entwichen. Sie war gerade neben Jakob ein Stück die Straße hinabgegangen, als ihr der Geruch von Bratäpfeln in die Nase stieg. Eine beleibte Gnomin kam auf einem klapprigen Fahrrad auf sie zu. Hinter ihr auf einem Anhänger stand ein kleiner Herd, und darauf lagen leuchtend rote Äpfel.
Kaum hatte sie gehalten, wandten sich Passanten nach ihr um. Schnell bildete sich eine Schlange vor ihrem Rad. Mia lief das Wasser im Mund zusammen, aber Jakob zog sie weiter.
»Ich glaube nicht, dass du das essen willst«, sagte er mit einem Grinsen. »Die Äpfel sehen nämlich nur so aus, als wären es Äpfel. In Wahrheit ist es Hirn.«
Mia verzog das Gesicht. »Aber der Geruch ...«
Jakob nickte. »Hier gelten andere Gesetze. Du kannst dich nicht auf das verlassen, was deine Sinne dir sagen, denn hier herrscht die Magie, und Ghrogonia ist eine Stadt des Zwielichts.«
Mia nickte nachdenklich Sie spürte ihn deutlich, den Schatten, der auf dieser Stadt lag, und die nicht greifbare Unruhe, die mit dem Wind durch die Straßen pfiff und sie frösteln ließ. Ihr Blick glitt zu den steinernen Figuren hinauf, die auf beinahe jedem Haus standen. Direkt über ihr hockte ein Gargoyle mit breitem Grinsen auf einem Dachsims und schien sie durch kalte, reglose Augen zu beobachten.
»In ihnen steckt Leben«, sagte Jakob, der ihrem Blick gefolgt war. »Kaum zu glauben, nicht wahr? Unsere Augen täuschen uns — aber du fühlst es, wenn du sie berührst. Man kann ihren Herzschlag spüren, und manchmal hört man sie seufzen im Todesschlaf. Es klingt, als würden Steine zerbrechen. Im Paris der Oberwelt setzen viele Gargoyles hin und wieder Duplixe ein — Kopien ihrer selbst, um nicht ständig an einen Ort gebunden zu sein. Es ist nicht leicht, einen Duplix von einem echten Gargoyle zu unterscheiden. Auch das ist — Magie.«
Da ging ein Ton durch die Straßen wie das Schlagen einer riesigen Bronzeglocke. Jakob blieb stehen — und er war nicht der Einzige. Plötzlich rührte sich keiner mehr auf der Straße, selbst die Hirnverkäuferin hielt inne. Mia folgte den Blicken und sah, dass alle den schwarzen Turm betrachteten, der sich in einiger Entfernung aus dem Häusermeer erhob. Nun erkannte sie, dass er mit spitzen Dornen übersät war. Schwach schimmernde grüne Fenster schauten wie Augen auf die Stadt, und eine gewaltige Uhr prangte an seiner Spitze. Langsam wie bei einer Sonnenfinsternis zog ein Schatten über das Ziffernblatt, das eben noch in goldenem Licht erstrahlt war. Mia spürte die Anspannung, die in der Luft lag. Für einen Moment wurde der Wind schneidend kalt. Dann schmolz der schmale goldene Rand aus Licht — und verschwand. Die Uhr war schwarz geworden. Im selben Moment ging ein Stöhnen durch die Stadt. Es war ein Laut von solcher Tiefe, dass der Boden erzitterte.
Mia erschrak, aber in die Gesichter der Umstehenden war etwas wie Erleichterung getreten, und der eisige Wind, der sich gerade noch wie eine Schlange um die Häuser gewunden hatte, war verschwunden. Da traf Mia etwas am Kopf, erschrocken wich sie zurück. Steinsplitter hingen in ihren Haaren. Sie schaute nach oben — und erstarrte. Glühende Augen sahen sie an, glühende Augen in einem steinernen Gesicht. Der Gargoyle, der gerade noch grinsend und versteinert dort oben gesessen hatte, war erwacht. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sich streckte. Dann stieß er einen Schrei aus. Heiser wie der Ruf eines Adlers hallte er über die Häuserschluchten. Andere Gargoyles antworteten ihm, es war wie das Heulen von Wölfen in der Nacht. Mia hielt den Atem an. Es schien ihr, als würde dieser Gesang ihr
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