Grim
saß und mit dem Finger Bilder auf die beschlagene Fensterscheibe malte. Eilig lief Mia auf das Auto zu, das Mädchen schaute sie an, es hatte eine Platzwunde an der Stirn und sah verängstigt aus. Ihre Mutter saß auf dem Fahrersitz und schlief, doch ihre Tür war eingedrückt, so dass Mia sie nicht öffnen konnte.
»Hab keine Angst«, rief sie dem Mädchen zu, das sie mit großen Augen ansah, während es wie unter Schock weiter mit dem Finger über die Scheibe fuhr. Offensichtlich konnte es sie nicht hören. Mia trat näher an das Auto heran. »Ich werde Hilfe holen, alles wird wieder … «
Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment fiel ihr Blick auf das, was das Mädchen gemalt hatte.
Mia.
Ihr Name war es, der unzählige Male in Spiegelschrift auf der Scheibe stand. Das Mädchen starrte sie mit verschlagener Bosheit an, sein Gesicht verwandelte sich zu einer teuflischen Fratze, ehe es die Faust vorstieß und das Glas zerbrach. Mia schrie auf – und schaute auf die unversehrte Fensterscheibe des Autos, hinter der ein kleines Mädchen schlief.
Das Flüstern fuhr ihr wie eine Totenhand in den Nacken. Angestrengt bemühte sie sich, ruhig zu atmen, doch da glitten Schatten durch den Nebel. Sie nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, doch jedes Mal, wenn sie sich umwandte, sah sie nichts als weiße Schleier.
Da begann sie zu rennen. Sie zwang sich, nicht den Blick zu heben, sie ignorierte die sich verzerrenden Fratzen der Menschen, die auf den Bürgersteigen zusammengebrochen waren und sie mit den toten Gesichtern von Josi und ihrer Mutter anstarrten, sie verschloss sich vor dem Gelächter, das aus dem Nebel drang – doch ihre Angst wuchs, und sie konnte nichts dagegen tun. Je schneller sie lief, desto größer wurde ihre Panik. Der Nebel umschlang sie wie ein wehendes Leichentuch, die Schatten wurden zahlreicher, sie sprangen neben ihr her, keuchend und geifernd wie ein Wolfsrudel auf der Jagd, sie verzogen sich zu Menschen mit unnatürlich verdrehten Gliedern, zu schrecklichen Scherenschnitten, deren Hände nach ihr griffen, und Teufelsfratzen, die sich in die Länge zogen und zerrissen. Doch schlimmer als das war die Kälte, die hinter ihr aufwallte. Sie wurde verfolgt, und was immer ihr nachging hatte keine Eile. Es schlich hinter ihr her, und obwohl Mia rannte, holte es immer mehr auf. Tief in ihrem Inneren wusste sie, wer sie verfolgte, doch sie fand keinen Namen, und als er schließlich gewaltsam in ihre Gedanken brach, da schnellte eine Klaue aus dem Straßenpflaster, packte ihren Knöchel und brachte sie zu Fall.
Hart schlug sie auf dem Boden auf. Sie hörte ihren Herzschlag nicht länger, sie hörte gar nichts mehr außer das Scharren hinter sich, nur wenige Schritte entfernt. Die Panik schloss sich um ihre Kehle, etwas in ihr rief ihr zu, dass sie aufstehen musste. Dreh dich nicht um und lauf, so schnell du kannst! Mia, lauf weg! Aber sie lag nur da, die Nebel strichen fast zärtlich über ihren Körper. Es waren andere Nebel auf einmal, sie erinnerte sich an sie, und sie hörte Jakobs Stimme wie aus weiter Ferne. Es ist jemand hier, der dich noch einmal sehen wollte. Er möchte sich von dir verabschieden. Mia hustete. Kurz stemmte sie sich hoch, sie wollte der Stimme folgen, die sie dazu anrief, sich abzuwenden, auf die Beine zu kommen, zu fliehen. Doch stattdessen starrte sie in den Nebel hinter sich und spürte die Präsenz, die sich ihr näherte, und ohne dass sie auch nur das Geringste dagegen hätte tun können, brach sich die Sehnsucht Bahn und riss alles andere mit sich.
Mia lag auf dem Boden und sah, wie sich die Umrisse einer Gestalt vor ihr aus dem Nebel schoben. Eine dunkle, geduckte Gestalt war es, mit klauenartigen Händen und verfilzten Haaren, die mehr aussahen wie ein Fell. Zögernd hob das Wesen den Kopf und neigte ihn leicht zur Seite, fast so, als würde es nur mit dem rechten Auge klar sehen können. Mia konnte das Gesicht im Nebel nicht erkennen, und doch traf sie die Gewissheit wie ein Schlag.
Lucas , flüsterte sie kaum hörbar. Sie wartete darauf, dass ihr Vater die Hand hob, dass sie weinen konnte, dass die Furcht und der Schrecken in ihr sich auflösten in warmes, freies Lachen. Doch das Wesen rührte sich nicht, und etwas an der Art, wie es zu Mia herübersah, etwas an der lauernden, geduckten Haltung und dem Keuchen, das nun aus seinem Mund drang, zerstörte jede Hoffnung. Mia presste die Finger gegen den Asphalt, bis sie Blut spürte. Das war nicht Lucas, der da vor ihr
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