Grim
Hände waren zu groß für den Körper und seine Finger mit den gesplitterten schwarzen Nägeln so lang, dass sie aussahen wie abgenagte Knochen. Er trug eine Kniebundhose, eine lilafarbene Weste über dem nackten Oberkörper und Schnallenschuhe in derselben Farbe, aus denen seine Zehen ragten. In Armen, Brust und Schultern steckten Nadeln wie bei einem Nadelkissen, und seine Augen flatterten, als würden sich Buchseiten oder Spielkarten in ihnen mischen. Als er den Mund öffnete, zerrissen die Fäden, mit denen dieser zugenäht worden war, ihm die Lippen. Blutrote Ranken brachen aus seinem Schlund, Mia wich vor ihnen zurück, doch sie hatte keine Chance. Sofort wanden sie sich um ihren Körper und stachen mit nadelfeinen Dorne n in ihr Fleisch. Eine Kälte ging von ihnen aus, die ihre Glieder lähmte und ihr die Kraft nahm. Sie starrte den Dämon an, der über ihr in der Luft schwebte und sie gierig betrachtete. Sie sah seine Gedanken: Er wollte sie töten, mit jeder Faser seines erdachten Körpers, wollte ihre Haut abtrennen und neue Blätter seines schrecklichen Labyrinths daraus nähen, dieses Kerkers, der sein Leib war. Er lächelte über ihre Angst – und als hätte dieses Lächeln ihr ins Gesicht geschlagen, riss sie den Blick von ihm los. Verflucht, war sie ein wehrloses Kind? Sie musste Grim finden, der irgendwo in diesem teuflischen Irrgarten nach ihr suchte, sie musste zurückkehren zu Lyskian und Remis und den Hartiden, die verloren waren ohne sie! Sie war auf ein Possenspiel hereingefallen – aber sie war eine Hartidin, die Schülerin Theryons, und sie würde sich nicht von einem drittklassigen Schneider umbringen lassen!
Entschlossen grub sie die Nägel in die Ranken, die sich um ihre Hände wanden, und rief ihre Magie. Diese rannte gegen die Lähmung an und brach als Eiszauber durch ihre Finger. Knisternd schoss er in die Ranken des Dämons, Mia schrie auf vor Schmerz, als die Dornen in ihrem Fleisch zu Eis wurden, aber sie sah auch das Entsetzen im Blick des Dämons, ehe der Frost durch seinen Körper raste und ihn in eine glitzernde Skulptur verwandelte. Knisternd drang ihr Zauber durch die Hecken des Labyrinths, erstickte jeden Duft der Blüten, und als sie auf die Beine kam, brachen die Ranken und Dornen in funkelnden Scherben von ihrem Leib.
Sie schwankte, als sie sich umwandte und den Weg hinablief, aber sie hörte Grims Stimme als wärmenden Donner erklingen, und als er mitten durch eine der vereisten Hecken brach, stieß sie einen Laut der Erleichterung aus. Sie wusste nicht, wie sie die letzten Meter überwand, und erinnerte sich nur, wie er sie auffing und die Wärme seines Körpers ihre Wunden heilte. Sie schloss die Augen, nahm seinen Herzschlag wahr und seinen Duft, und für einen Moment war es, als fühlte sie sie zum ersten Mal: die Geborgenheit in seinen Armen und die Zärtlichkeit in seinem Blick.
Leise Schritte ließen sie herumfahren. Lyskian kam auf sie zu, dicht gefolgt von Remis und den Hartiden. Ein blutiger Striemen lief quer über seine Wange, doch die Wunde schloss sich bereits wieder. Offenbar hatte auch er mit den Auswüchsen des Labyrinths zu kämpfen gehabt. Remis sah aus, als wäre er in einen Mixer geraten, und während Edwin sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm hielt, hatten Radvina und Jaro nur Schrammen an Händen und Wangen davongetragen.
»Das war ein Khan«, murmelte Grim und strich Mia durchs Haar, ehe er sich von ihr löste. »Ein Dämon der achten Kaste. Sein Zauber hat uns mit uns selbst konfrontiert, mit unseren Ängsten, Sehnsüchten und Finsternissen. Mia hat den Zauber durchbrochen, aber … «
Ein lautes Knacken ließ ihn innehalten. Mia sah, wie sich eine Dornenranke aus dem Eis sprengte und peitschend ausschlug. Gleich darauf drang ein tiefes Stöhnen durch das Labyrinth, weitere Ranken bahnten sich ihren Weg und schleuderten Splitter aus Eis durch die Luft.
Remis strich sich die aufgeplusterten Haare aus der Stirn. »Er wurde nicht vernichtet«, flüsterte er und Lyskian nickte düster.
»Er hat nicht bekommen, was er wollte«, erwiderte der Vampir. »Es wird nicht helfen, ihn erneut zu vereisen, dieses Labyrinth der Schatten ist zu groß, wir müssen … «
Mia hörte seine Worte nicht mehr. Sie nahm nur den Knall wahr, der die Luft zerriss, und den Schlag, der sie mit voller Wucht am Rücken traf und ein ganzes Stück weit den Weg hinaufkatapultierte. Sie fühlte noch Radvina und Jaro neben sich aufkommen, dann raste eine Welle aus
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