Grim
Dann ließ sie ihn los. Sie trat zurück, aus irgendeinem Grund war ihr übel, und sie hörte kaum, wie Jaro sich an der Wand abstützte und hustete. Die Blicke der anderen ruhten auf ihr, sie schaffte es, sie zu ignorieren – bis auf einen.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Mia vermied es, Grim anzuschauen, aber sie sah ihn vor sich, regungslos und mit einer Maske aus Schatten vor dem Gesicht, die seine Gefühle vollständig verbarg. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte ebenso gehandelt wie sie, daran zweifelte sie nicht. Jaro ging ihm seit ihrer ersten Begegnung auf die Nerven, und Mia hatte den Zorn gefühlt, der bei dem Tod des Dämons in Grims Schläfen geschossen war. Doch er hatte es nicht getan – sie war es gewesen. Noch immer spürte sie die Heftigkeit des Eiszaubers in ihren Fingern, und sie dachte an das Erstaunen und den Schrecken, der in Grims Blick gestanden hatte und sie frösteln ließ. Wie aus weiter Ferne hatte er sie angesehen, und sie war selbst erstaunt über sich. Nie zuvor hatte sie auf diese Weise reagiert, nie zuvor ihrem Zorn Ausdruck verliehen, als wäre sie ein heißblütiges Feuerkind. Warum musste sie ausgerechnet jetzt damit anfangen, noch dazu bei einem Hartiden, der gerade seine Kräfte entdeckte und damit begann, sich in der Anderwelt zurechtzufinden? Hatte sie nicht auch ihre Zeit gebraucht, um die Schatten zu begreifen, in die sie geraten war?
»Seht euch das an.« Lyskians Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Er stand am Ende eines Ganges, in mehreren Schichten hatten sich dort dünne Steinlagen wie Tücher umeinandergelegt und glommen in einem schwachen roten Licht. Goldene Zeichen waren darin eingewoben, Mia erkannte uralte Formeln in Th’ynguel und Ànth’karya, und als Lyskian die Hand auf die Steine legte, wurden sie weich wie Seide. Wortlos ging er durch sie hindurch, und Mia folgte ihm mit den anderen. Zart legten sich die Tücher auf ihre Haut, sie meinte, vielfarbige Stimmen zu hören, einige nah, andere aus weiter Ferne, und als sie das Licht hinter sich gelassen hatte, fand sie sich auf einem Pfad wieder, der von haushohen Hecken aus blauschwarzen Dornenranken, fluoreszierenden Büschen und Bäumen mit geisterhaften Zweigen gesäumt wurde. Weit über ihnen wölbte sich die Decke einer gewaltigen Höhle.
»Sieht aus, als wären wir in einem Wald gelandet«, murmelte Grim und warf den Hecken einen düsteren Blick zu.
Remis schnaubte verächtlich. »Du wirst nie begreifen, was der Unterschied zwischen einem Wald ist, einer gewöhnlichen Hecke und einem Kuckucksei«, erwiderte er und betrachtete fasziniert eines der großen, mit glitzernden Kristallen besetzten Dornenblätter. Doch als er die Finger danach ausstreckte, formte es sich zu einem Schnabel und schnappte nach ihm. Erschrocken wich er zurück und starrte auf das Blatt, das bösartig schnarrte, ehe es sich wieder zu scheinbarer Ruhe entfaltete.
»Gewöhnliche Hecke oder schnappendes Blatt ist ja fast dasselbe«, bemerkte Grim mit einem Grinsen und ignorierte Remis’ giftigen Blick. »Ich werde nachsehen, in was für ein Kuckucksei wir hier geraten sind.« Gerade wollte er seine Schwingen ausbreiten, als Lyskian ihn zurückhielt. Mit finsterer Miene riss der Vampir in blitzschneller Bewegung eines der Blätter vom Ast. Radvina stieß ein angeekeltes Geräusch aus, als klebriges grünes Blut aus dem Stiel lief und sich auf dem Boden ergoss.
»Diese Hecke trägt dämonische Kraft in sich«, murmelte Lyskian. Kaum hatte er das gesagt, ging ein unheilvolles Grollen durch die Pflanzen. Grim sah auf das zu Asche zerfallene Blatt und griff in seine Tasche. Carvens Drache schlief, doch als Grim ihn anstieß, schüttelte er sich wie ein nasser Hund und trippelte auf der Stelle, als könnte er es kaum erwarten, sich in das nächste Abenteuer zu stürzen. Neugierig schaute er in die Runde, und Edwin lachte, als der Drache sich höflich vor allen verbeugte.
»Loopinghöhenflugmitsturzlandung«, raunte Grim eine der Losungen. Sofort scharrte der Drache mit den Hinterbeinen, eine winzige Pilotenbrille in Regenbogenfarben entstand auf seiner Schnauze, und dann hob er ab und sauste mit gestreckten Beinen hoch in die Luft. Mit breitem Grinsen vollführte er die ersten Drehungen, doch noch ehe er seine Spezialität, einen weiten Looping mit ausgebreiteten Gliedmaßen, fliegen konnte, zischte eine Dornenranke wie ein Fangarm aus der Hecke und zerschlug seinen Nebelleib in zwei Teile. Entgeistert flatterte der
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