Grim
über den Niedergang des Bundes, nicht nur Entsetzen und Furcht. Unter all diesen Empfindungen, die sich in ihr aufbäumten, lag etwas anderes, etwas Zartes, das ihr liebevoll ins Gesicht sah. Das, was Oreyon in seinen letzten Augenblicken gespürt hatte, war … Mitgefühl.
Sie hob den Kopf und sah Lyskian an. Sie konnte ihre Gefühle noch nicht zu einer Erkenntnis formen, aber als er ihrem Blick begegnete, wusste sie, dass er ihr weit voraus war. Langsam wandte er sich Alvinor zu und setzte sich ein wenig vor. »Ingynon mit der Narbe quer über der Wange?«, fragte er fast flüsternd.
Alvinor nickte. »Ja, er bekam sie, als er … « Er hatte den Blick gehoben und Lyskian angesehen, doch nun schien auch er die Kälte in dessen Augen zu bemerken, die Anspannung seiner Glieder und das feine, grausame Lächeln des Raubtiers kurz vor dem tödlichen Biss.
»Ingynon stand in der Nähe der fünften Säule«, sagte Lyskian. »Nahe des Portals, als Oreyon starb. Er stand dort mit zwei weiteren Jägern, ich vermute, dass es Andraka und Feysthar waren, die ihren Schülern die Flucht vor den Flammen ermöglichten. Er schaute zu Oreyon hinüber – aber er hätte unmöglich dessen letzte Worte hören können durch das Rauschen des Feuers.«
Die Stille, die nun eintrat, war vollkommen. Alvinor saß wie erstarrt, doch plötzlich flammte etwas wie Erleichterung über seine Züge, so als hätte er sehr lange auf diesen Augenblick gewartet und ihn gleichzeitig über alle Maßen gefürchtet. Da griff Lyskian nach seinem Arm, so schnell, dass er nicht zurückweichen konnte, streifte den Ärmel zurück und ließ helle Funken über seine Hand tanzen. Schwarze Zeichen brachen durch Alvinors Haut – dieselben Zeichen, die Mia in der Vision gesehen hatte, die Zeichen desjenigen, der neben Oreyon auf die Knie gefallen war. Sie starrte Alvinor an und wusste im selben Moment, dass dies nie sein wahrer Name gewesen war.
Ein kaltes Lächeln streifte Lyskians Lippen. »Du bist Samhur«, raunte er dunkel. »Jäger der Fünf.«
Kurz starrte sein Gegenüber ihn an, dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer dämonenhaften Fratze. Er stieß einen Schrei aus, schlug Lyskian so heftig zurück, dass dieser in seinen Sessel flog, und sprang mit gewaltigem Satz aus der Tür.
»Scheint nicht gerade begeistert zu sein, dass wir ihn gefunden haben«, meinte Grim, doch noch ehe er auch nur den Blick wenden konnte, war Lyskian aufgesprungen und Samhur nachgeeilt. Die Schritte des Jägers hallten seltsam unwirklich zu ihnen herüber, und als Mia mit den anderen die Treppe hinablief, ging ein lautes Dröhnen durch das Haus. Radvina schrie auf, aber ihre Stimme ging im Lärm unter. Die Treppe begann zu wackeln, die Stufen wurden weich wie lebendiges Gewebe, die Wände überzogen sich mit einer dunklen, glänzenden Flüssigkeit und verformten sich wie in einem Zerrspiegel.
»Blut!«, rief Edwin mit sich überschlagender Stimme und begann panisch, sich die Hand, mit der er die Wand berührt hatte, an der Hose abzuwischen.
Mia hörte ihn kaum. Sie war wie Grim vollends damit beschäftigt, die verfluchte Treppe hinabzusteigen und Lyskian zu folgen, der dem Jäger in rasender Geschwindigkeit nachjagte. Remis hielt sich an Grims Schulter fest und Mia fasste nach dem Geländer, doch sofort riss sie die Hand zurück, denn es fühlte sich unter ihren Fingern an wie ein sich bewegender, halb zerfetzter Arm. Sehnen stachen aus dem aufgebrochenen Fleisch, sie sah Knochen und Muskelstränge, und bevor sie die anderen warnen konnte, stolperte Radvina hinter ihr und riss sie mit sich die Treppe hinab. Im letzten Moment konnte Grim ihren Sturz abfangen.
»Verdammt, reißt euch zusammen!«, herrschte er die Hartide an, was Jaro mit missbilligendem Schnauben quittierte. Er setzte gerade zu einer Antwort an, als das Schlagen einer Tür die Luft zerriss, und kaum, dass sie ihren Weg fortsetzten, verwandelten sich die Zimmer in lange, finstere Korridore. Türen zweigten von ihnen ab, doch als Grim eine von ihnen öffnete, quollen ihm blutige Tentakel entgegen und schlugen nach seinem Gesicht. Lyskian hingegen schien sich instinktiv zurechtzufinden. Er riss Türen auf und Bodenluken und führte sie immer näher an die Schritte Samhurs heran, der durch hallende Tunnel lief, über knirschenden Sand und holpriges Kopfsteinpflaster. Doch gerade, als Mia glaubte, ihm hinter der nächsten Tür gegenüberzustehen, fanden sie sich plötzlich in einem der Ausstellungsräume
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