Grim
Träume können gefährlich sein. Doch es ist ein Unterschied, ob du vor der Pranke eines Bären fliehen musst, um nicht in Stücke gerissen zu werden, oder ob deine eigene Finsternis dich verzehrt. Du verstehst nichts davon, Prinzessin, noch nicht. Vielleicht hast du Glück und wirst es eines Tages erfahren.«
Radvina starrte ihn an, und ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie ihr Glück vollkommen anders definierte. Da beugte Lyskian sich vor.
»Ich werde gehen«, sagte er und fixierte Balthasar mit seinem Blick. »Führt mich auf den Grund.«
Für einen Moment schaute der Gargoyle ihn an, und Mia wünschte sich in plötzlicher Furcht, dass der Traumsammler den Kopf schütteln und Lyskians Angebot ablehnen würde. Doch Balthasar lächelte nur und erhob sich. »Ihr habt Euch verändert«, sagte er, fegte mit einer Handbewegung allerlei Pergamentrollen und Kerzenstummel von einer Liege und zog sie in die Mitte des Zimmers. »Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich Euch am liebsten mit dem Kopf voran in den Teufelsbach geworfen hätte für Euren Zorn, Eure Gier, Euren törichten Mut. Ihr habt gelernt, was Furcht bedeutet, mein Prinz. Oder habt Ihr Euch … erinnert?«
Ein trauriges und vielleicht etwas spöttisches Lächeln trat in seinen Blick, als er zusah, wie Lyskian sich ohne eine Antwort auf die Liege legte. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und schaute zur Decke hinauf. Der Rauch formte sich zu wehendem Sand. Angespannt beobachtete Mia, wie Balthasar einen schwarzen Edelstein an einer Kette aus der Tasche zog, doch ehe er ihn über Lyskians Brust bewegen konnte, griff sie nach dessen Hand. Sie war eiskalt. Lyskian lächelte kaum merklich, er lag so ruhig da, als wäre er tot.
Nein , flüsterte er. Der Tod meidet meine Gesellschaft, so war es immer schon, und du kennst mich. Ich laufe ihm nicht nach.
Mia brachte ein Lächeln zustande, doch auch als Lyskian sich von ihr abwandte, ließ sie seine Hand nicht los. Wortlos setzte sie sich auf den Stuhl, den Edwin ihr brachte, und sah zu, wie Balthasar den schwarzen Stein pendelnd über Lyskians Brust bewegte. Dessen Lider zitterten, kurz krampfte sich sein Körper zusammen und er umfasste Mias Hand so fest, dass es ihr wehtat. Dann sank er auf die Liege zurück.
Balthasar ließ sein Pendel in seine Tasche gleiten. Er befahl einen Stuhl heran und setzte sich, auch Radvina und Jaro traten nun näher, doch Mia achtete kaum auf sie. Niemals zuvor hatte sie Lyskian schlafen sehen. Er sah aus wie eine Statue, in der ein schwaches, eisiges Licht glomm, und sie erzitterte angesichts der Schönheit, die er in diesem stillen Zustand verströmte. Es war eine tiefe Art des Friedens, die über ihm lag, eine Ruhe, die es ihr unmöglich machte, sich abzuwenden. Deutlich spürte sie den Frost seines Körpers an ihren Fingern, doch erstmals, seit sie ihn kannte, begriff sie die Erhabenheit dieser Kälte ganz.
Sie erschrak heftig, als er plötzlich die Finger bewegte. Die Stille über ihm zerriss, sie trieb Mia auf die Beine, noch ehe sie das Blut bemerkte, das plötzlich aus seinem Augenwinkel lief. Sie schaute zu Balthasar auf, der sich erhoben hatte und angespannt auf den Vampir hinabsah.
»Was geschieht mit ihm?«, flüsterte sie.
Der Gargoyle streckte die Hand aus und bewegte sie über Lyskians Lidern. Balthasars Augen wurden erst grau und dann weiß. Milchig starrten sie Mia an, ehe sich die Farbe wieder in sie hineinfraß. »Er ist in großer Dunkelheit«, murmelte der Traumsammler. »Er … «
Da stöhnte Lyskian auf, und Mia schaute entsetzt auf ihre Finger. Blut benetzte ihre Haut, tiefe Schnitte liefen über seine Handfläche. Schwarz sickerte das Blut über die Liege auf den Boden und Mia fühlte den Abgrund hinter Lyskians Lidern.
»Wir müssen ihn wecken«, sagte sie und zwang sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Er wird den Rückweg nicht finden!«
»Aber das muss er«, entgegnete Balthasar ernst, und legte seine Hand an Lyskians Schläfe.
Mia wusste, dass er in die Gedanken des Vampirs eindrang, oft genug hatte sie diesen Prozess bei Grim und den Schattenflüglern beobachtet. Er würde Lyskians Traum durchfliegen und …
»Verflucht!« Balthasars Stimme schlug ihr ins Gesicht wie eine Faust. Ein tiefer Schnitt zog sich quer über seine Wange, Blut quoll aus der Wunde und besudelte seine Kutte, doch er schien es kaum zu bemerken. Mit düsterer Miene starrte er auf Lyskian hinab. »Narr von einem Unsterblichen«,
Weitere Kostenlose Bücher