Grim
Schlaf ihres Lebens sein. Mia sah die Maske des Bhaal vor sich, von geisterhaftem Nebel umspielt, und spürte den Blick aus den leeren Augenhöhlen wie Hohngelächter. Dieses Artefakt war es, das den Übergang ermöglichte, und da es nur auf das menschliche Bewusstsein wirkte, mussten die Dämonen in Koma versetzt werden. Doch sobald sie diese Welt erreichten, würden sie erwachen, und Mia hörte Samhurs Stimme in ihren Gedanken widerhallen: Wir brauchen uns keine Illusionen zu machen: Unter Verus’ Faust werden sie die Hölle auf Erden errichten, und die Menschheit wird aufhören zu existieren.
Mia holte tief Atem. Die kalte Luft tat ihr gut, sie half ihr, diese Gedanken beiseite zu drängen, doch kaum, dass sie hinübersah zu dem gewaltigen Drachen, der den Veitsdom umschlungen hielt, tauchten die gleichen Sorgen und Zweifel wieder in ihr auf. Was würde aus der Welt werden, wenn Verus die Macht der Flamme erst vollends zu nutzen verstand? Zeit seiner Existenz hatte er nach der Kraft der Götter verlangt, und nun hatte er einen Teil davon erhalten. Nur zu gut erinnerte Mia sich an den Riss der Vrataten, jene grausame Dämonenwelt, in der es keine Gesetze gab außer dem Chaos und dem Recht des Stärkeren. Die Nebel glitten über den Dom hinweg, als wären sie die Rauchschwaden einer vergangenen Schlacht. Entschlossen ballte sie die Fäuste. Noch war Verus nicht am Ziel. Grim würde sich ihm im Kampf entgegenstellen, ganz gleich, welche kalte Glut dabei nach ihm rief, die Ghrogonier würden Vergeltung üben für das, was die Dämonen ihnen angetan hatten, und sie selbst … Unnachgiebig betrachtete sie den Nebel. Es gab einen Weg, Verus’ verfluchte Armee aufzuhalten und die Menschen zu befreien. Aber kein Gargoyle konnte ihn gehen, kein Hybrid, kein Kind des Feuers. Mia sah Samhurs Lächeln vor sich, seltsam klar war sein Blick gewesen und die unheilvollen Schatten hatten geschwiegen wie ein samtenes Meer. Nur ein einziges Wesen vermag das Ritual zu vernichten, hatte er zu ihr gesagt. Ein Wesen, mit dessen Blut der Ruf in die Schatten geboren wurde – ein Mensch. Verus hat sein Ziel fast erreicht, doch es gibt jemanden, der seiner Schwarzen Kunst entgegentreten kann, jemanden, der alles zunichtemachen kann, was er schon so klar vor sich sieht, als wäre es längst geschehen. Dann hatte er geschwiegen, aber etwas in seinen Augen hatte sie dazu gebracht, den Atem anzuhalten. Etwas wie – Ehrfurcht? Du bist es , hatte er gesagt und leicht den Kopf vor ihr geneigt. Du, Tochter des Sturms, bist die Einzige, die seinen Zauber jetzt noch aufhalten kann.
In unwirklicher Trägheit schlich der Nebel um die Zinnen der Burg. Er war alles, was sie von dem Ritual trennte – er und die Dämonen, die durch die Gassen Kleinseites patrouillierten. Sie durchsiebten den Nebel mit einem grellen Suchscheinwerfer, der im dornenübersäten Glockenturm der Sankt-Nikolaus-Kirche prangte, als würden sie nur darauf warten, dass sich unvorsichtige Ghrogonier hineinbegeben würden. Vor Stunden hatte Samhur den Islis verlassen, um einen Schutz gegen den tödlichen Dunst zu beschaffen, und eines war sicher: Sobald er zurück war, würde sie tun, was nötig war. Sie würde ihren Teil dazu beitragen, Verus in seine Schranken zu weisen, ein für alle Mal.
Der Wind stob ihr so heftig ins Gesicht, dass ihre Haare flatterten. Wie eine Antwort auf ihre Gedanken war er, ein Hohngelächter, das ihr wieder das Schwert aus Eis in die Hand schickte und das sie hinabschauen ließ auf Jaro, den sie beinahe getötet hatte. Noch immer glomm der Zorn in ihr, er war erneut aufgelodert, als sie Carven gesehen und die Mauer gefühlt hatte, hinter der Grim sich um sich selbst drehte, und sie spürte die Stille so laut in sich, dass ihr Blut in den Schläfen pulsierte. Tochter des Sturms, was bedeutete das? Hieß es, in die Schatten zu schauen und sich selbst darin zu sehen, reglos und mit kaltem Blick, das Blut eines anderen Menschen an ihrem Schwert?
Sie bemerkte Lyskian erst, als er sich neben sie auf die Mauer schwang. Sie fuhr zusammen, es war lange her, seit sie ihn zum letzten Mal so spät wahrgenommen hatte, und er berührte ihren Arm, kurz nur und wie entschuldigend.
»Du bist beinahe kälter als ich«, stellte er fest, und ehe sie protestieren konnte, legte er ihr seinen Mantel um die Schultern. »Du bist ein Mensch, Mia. Du solltest daran denken, dass schon eine Grippe dich umbringen kann.«
Er lächelte, doch sie erwiderte die Geste nicht. Sanft
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